SZ-Kolumne "Alles Gute":"Das Volk aber darbt, bäh"

Lesezeit: 2 min

(Foto: Steffen Mackert)

Was sich die Leute nicht alles einfallen lassen in diesen Tagen, um ihre Mitmenschen aufzubauen. Zum Beispiel chinesische Gedichte.

Von Kurt Kister

Die Menschen sind erfinderisch geworden in den letzten Tagen. Viele sind zu Hause, entweder im Heimatbüro oder sonstwie allein, wenn auch hoffentlich nicht einsam. Man denkt sich allerhand Dinge aus, um sich zu beschäftigen, wenn man nicht gerade in einer virtuellen Konferenz sitzt. Einige Leute übrigens haben bei diesen Konferenzen ihre Kameras am Telefon oder am Computer so ausgerichtet, dass man in ihre Nasenlöcher sehen kann. Das ist ein interessanter, wenn auch nicht immer angenehmer Anblick.

Etwas einfallen lassen hat sich der Münchner Sinologie-Professor Thomas O. Höllmann. Er stammt aus Eggenfelden in Niederbayern, kann aber viel besser Chinesisch, als der ebenfalls niederbayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger Deutsch kann. Höllmann hat vor etwa einer Woche damit begonnen, an mehr oder weniger gute Bekannte jeden Tag ein Gedicht zu mailen. "Damit soll", schreibt er, "nicht zuletzt die notwendig gewordene Abschottung ein wenig durchbrochen werden."

SZ-Serie "Alles Gute"
:Erinnerungen für die Zukunft

Diese Tage und Wochen sind historisch. Museen fangen deswegen schon an, Gegenstände aus unserem veränderten Alltag zu sammeln

Von Vinzent-Vitus Leitgeb

Als Zeitungsredakteur steht man Menschen, die einem Gedichte schicken, grundsätzlich eher abwartend gegenüber. Im Laufe der Jahre, gar der Jahrzehnte bekam man von mancher Ersatz-Mayröcker und manchem Hilfs-Hölderlin Poesie geschickt, die man veröffentlichen sollte. Man ließ es sein, zum höheren Nutzen der Poesie insgesamt, aber auch zum Besseren der Zeitung.

Schon damals war es so, wie es auch heute noch ist

Höllmann dichtet nun nicht selbst. Er übersetzt alte chinesische Gedichte, wie etwa "Das Lied von der fünffachen Abscheu" aus dem Jahre 80 unserer Zeitrechnung. "Den Hügel bin ich hinaufgestiegen, bäh, / mit Blick hinab auf die Residenz, bäh, / mit ihren hoch aufragenden Palästen, bäh! / Das Volk aber darbt, bäh, / dauerhaft für alle Zeit, bäh!." Verfasst hat es ein gewisser Lian Hong.

So erhält man alle Tage bis auf Sonntag ein altes chinesisches Gedicht. Und wenn man die Schnauze voll hat von Virus-, Krisen- und Kurzarbeitsmails liest man zum Beispiel: "Beim Morgengrauen beginnt die Arbeit, / zur Dämmerstunde wird geruht. / Zum Trinken bohren wir uns Brunnen, / fürs Essen ritzt das Feld der Pflug. / Was aber hat des Kaisers Macht / damit zu schaffen?" Wer das geschrieben hat, weiß der Professor nicht. Aber das gefühlslinke Gedicht ist gut 2300 Jahre alt. Und schon damals war es so, wie es auch heute noch ist: Die einen arbeiten, und die anderen leben davon, dass die einen arbeiten.

So trägt das niederbayerisch-chinesische Tagesgedicht ein wenig dazu bei, dass die Dinge nicht gar zu grau werden. Die alten Chinesen lehren einen außerdem Duldsamkeit, wie zum Beispiel Tao Yuanming aus dem Jahr 426: "Ungezählten Vorbildern / vergangener Zeiten nacheifernd / trage ich mein Los in Würde / ‒ auch wenn der Magen knurrt."

Na, dann verbringen wir doch den nächsten Tag auch wieder im Heimatbüro. Aber wir tragen das Los in Würde.

In jeder Krise passiert auch Gutes, selbst wenn man es nicht immer auf den ersten Blick erkennen kann. In dieser Kolumne schreiben SZ-Redakteure täglich über die schönen, tröstlichen oder auch kuriosen kleinen Geschichten in diesen vom Coronavirus geplagten Zeiten. Alle Folgen unter sz.de/allesgute

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusInterview am Morgen: Tipps vom Tatortreiniger
:"Ein Altersheim bekäme bei uns den Vorzug"

Marcell Engel leitet eine Reinigungsfirma. Durch die Pandemie kommt er auch mit vielen Schicksalsschlägen in Kontakt. Ein Gespräch über den psychologischen Aspekt des Reinigens - und wie man mit Korn desinfizieren kann.

Von Johanna Bruckner

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: