Süddeutsche Zeitung

Corona und der Justizvollzug:In Gefängnissen herrscht "gespenstische Stimmung"

  • In deutschen Gefängnissen haben sich bisher noch keine Häftlinge infiziert, aber dafür bereits einige Bedienstete.
  • Unter Häftlingen und ihren Angehörigen, unter Rechtsanwälten und unter dem Wachpersonal herrscht dieser Tage große Sorge und Verunsicherung.
  • Der Erreger kann sich in Gefängnissen besonders gut ausbreiten. Teils gibt es Gemeinschaftszellen. Auch ist unter Gefangenen der Anteil an Risikopatienten hoch.
  • Einschränkungen wie Besuchsverbote belasten bereits die Insassen.

Von Lena Kampf, Klaus Ott und Reiko Pinkert

Wenn sich in der Justizvollzugsanstalt Castrop-Rauxel alle Insassen zum Mittagessen versammelten, begegneten sich bis zu 450 Männer im Essensaal, sagt Ingo Schmidt. Abstand halten sei unmöglich. "Man kann froh sein, wenn man überhaupt einen Sitzplatz findet." Schmidt heißt in Wirklichkeit anders. Weil er von Problemen in einer Haftanstalt erzählt, möchte er lieber anonym bleiben. Sein richtiger Name ist der SZ bekannt.

Soziale Distanzierung, wie sie außerhalb der Haftmauern weitgehend praktiziert wird, ist im Gefängnis schwer möglich. Seit einigen Tagen dränge die Anstaltsleitung zwar verstärkt auf die Umsetzung der Hygienerichtlinien des Robert-Koch-Instituts, sagt Schmidt, doch allein beim Händewaschen werde es schwierig. Er teile sich in seinem Hafthaus mit etwa 60 Insassen vier Waschbecken mit warmem Wasser. Zur Zählung abends um 20 Uhr quetschten sich alle Mann noch einmal in den Hausflur. Die Anstaltsleitung erklärt, man habe zahlreiche Vorkehrungen gegen Corona getroffen, zum Beispiel Abstandsregeln, regelmäßige Desinfektionen oder Hinweistafeln zur Handhygiene. Auch setze man auf die Selbstverantwortung.

Unter Häftlingen und ihren Angehörigen, unter Rechtsanwälten und unter dem Wachpersonal herrscht dieser Tage große Verunsicherung, wie Gefängnisse dem Infektionsrisiko begegnen können. Haftanstalten sind darauf angelegt, dass niemand rauskommt. Jetzt machen sich Anstaltsleitungen und Justizbehörden mehr Sorgen, wenn jemand reinkommt - und möglicherweise das Coronavirus einschleppt.

Der Erreger kann sich in Gefängnissen besonders gut ausbreiten. Teils gibt es Gemeinschaftszellen. Auch ist unter Gefangenen der Anteil an Risikopatienten hoch. Viele sind suchtkrank, leiden besonders häufig an Hepatitis-C oder sind HIV-infiziert, außerdem gibt es Vorbelastungen durch psychische oder psychiatrische Störungen, und in den Anstalten sitzen viele ältere Männer.

Sie sind besonders gefährdet. In China, wo die Pandemie ihren Anfang nahm, sollen sich mehr als 500 Personen in fünf Gefängnissen infiziert haben. Allein im Frauengefängnis von Wuhan sollen mehr als 200 Insassinnen erkrankt sein. In Italien berichteten Medien Anfang März von sieben Toten in mehreren Haftanstalten. Verstärkte Einschränkungen sollen zu Revolten geführt haben, wobei ein Vollzugsmitarbeiter als Geisel genommen wurde und andere Insassen entkamen. Im Iran wurden 54 000 Strafgefangene vorsorglich entlassen, um einer Ausbreitung von Covid-19 in überfüllten Gefängnissen zuvorzukommen. Sogar in den USA werden Rufe nach Haftlockerungen und Entlassungen lauter, Experten sprechen von potenziellen "Todesfallen".

Manch Haftstrafen werden derzeit nicht vollstreckt

In Deutschland versuchen Haftanstalten ebenfalls, die Kontakte unter den Gefangenen und die Zahl der Inhaftierten zu verringern. Bundesweit werden Menschen, die eine Haft als Ersatz etwa für Geldstrafen antreten sollen, gerade auf freien Fuß gesetzt. Es sind Leute, die ihre Geldbußen nicht zahlen oder andere Auflagen nicht erfüllen (können): Auf Anfrage der SZ geben die Justizbehörden der Bundesländer an, solche Haftstrafen in der nächsten Zeit nicht vollstrecken zu wollen.

Um Platz zu schaffen, hat Hamburg in dieser Woche 40 Personen aus der Haft freigelassen, die eine solche Ersatzfreiheitsstrafe absitzen. In Berlin und Brandenburg dürfen am Sonntag 18 männliche und eine weibliche Jugendliche ihren Jugendarrest verlassen. Freiheitsstrafen von unter drei Jahren werden in Berlin bis zum Sommer nicht vollstreckt, wenn sich die Verurteilten noch nicht in Haft befinden. In Hessen sollen verurteilte Personen, die von Beginn an in den offenen Vollzug gehen würden, bis auf Weiteres nicht geladen werden.

Gleichzeitig müssen die etwa 66 000 Strafgefangenen und Untersuchungshäftlinge starke Einschränkungen hinnehmen: Gefangenenbesuche sind in fast allen Bundesländern für einige Wochen verboten oder, wie in Hamburg und Brandenburg, nach Genehmigung nur noch mit Trennscheibe möglich. Außerdem wurden, etwa im Saarland, Haftlockerungen wie Ausgänge bereits wieder beschränkt und eingestellt. In Nordrhein-Westfalen sollen in Anstalten des Offenen Vollzugs private Mobiltelefone in einem speziellen Raum genutzt werden dürfen, als Ausgleich für die Einschränkungen.

Bedienstete infiziert

Lediglich Anwälte dürfen ihre Mandanten noch sehen. Dafür arbeitet man etwa in Berlin daran, den Insassen private Außenkontakte per Skype zu ermöglichen. Auch die Übernahme von Telefonkosten wird geprüft. Dabei geht es um offizielle, erlaubte Telefonate via Festnetz aus dem Gefängnis. Und natürlich nicht um eingeschmuggelte Handys, die immer wieder Anlass von Durchsuchungen sind. Ein weiteres Problem: In vielen Anstalten sind Beratungs- und Betreuungsangebote ausgesetzt. Suchthelfer, aber auch Ausbilder für Qualifizierungsmaßnahmen dürfen nicht mehr kommen. Ein Anwalt, der seinen Mandanten in der Untersuchungshaft in Frankfurt besuchte, spricht von einer "gespenstischen Stimmung". Kaum Anwälte, keine Besucher, wenig Beamte, dafür "hohe Anspannung", sagt der Anwalt.

Zwar geben alle Bundesländer mit Stand Mittwochmittag an, es seien bisher keine Insassen mit Corona infiziert. Aber in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gibt es jeweils einen infizierten Beamten, in Bayern zwei. Und in Baden-Württemberg sind drei Mitarbeiter des Justizkrankenhauses Hohenasperg positiv getestet und isoliert worden. Hinzu kommt: Unter dem Wachpersonal in deutschen Haftanstalten gibt es ohnehin einen notorisch hohen Krankenstand, Quarantäne-Maßnahmen könnten die Personalsituation weiter verschärfen. Außerdem ist fraglich, ob ausreichend Intensivbetreuungsplätze in den Justizvollzugskrankenhäusern vorhanden sind. Und sollten Schwerkriminelle in Krankenhäusern behandelt werden müssen, dann wären schichtweise Wachteams nötig. Das würde zusätzliches Personal binden.

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Quelle:
SZ vom 20.03.2020/moge
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