Süddeutsche Zeitung

Joggen in Corona-Zeiten:Läuft nicht mit uns

Trotz Ausgangsbeschränkungen ist Joggen ausdrücklich noch erlaubt und damit der Sport der Stunde. Aber was, wenn man Joggen noch nie leiden konnte? Ein Versöhnungsversuch. 

Von Marc Baumann

Der Natur kann man keinen Vorwurf machen, sie gibt alles an diesem Sonntagmorgen im Feldafinger Stadtpark. Der Starnberger See glitzert in der Sonne, in der Ferne sieht man die noch schneebedeckten Berggipfel, man riecht den Bärlauch am Wegrand. Ein großer Fisch springt kurz aus dem Wasser und taucht mit einem Platscher wieder ein. Als wolle er wissen, weshalb so früh am Morgen so viele Menschen an seinem See unterwegs sind - und warum sie nicht wie sonst spazieren, sondern mit roten Köpfen in Leggings am Ufer lang laufen. Die Antwort: Wir joggen. Alle joggen jetzt.

Schon um neun Uhr früh muss man oft ausweichen auf den engen Wegen des Stadtparks. Manche Entgegenjogger nicken einem solidarisch zu, andere (die mit den Schutzmasken) drehen den Kopf weg. Hier und da zeigt ein erfahrener Ausdauerläufer mit starken, eleganten Schritten, wie der Sport eigentlich aussehen sollte, die Corona-Jogger schleppen sich so ihre fünf, sechs vorgenommenen Kilometer lang dahin. Weil nahezu alle anderen Sportarten außerhalb des Wohnzimmers verboten sind.

Die Fußballfelder, die Basketballkörbe, die Tennisplätze, die Skateparks, die Turnhallen, die Squash-Center, alle geschlossen. Im Englischen Garten wurde sogar der Wasserpegel des Eisbachs gesenkt, damit niemand mehr auf den stehenden Wellen surft.

Da bleibt auch uns Joggingmuffeln nur: Joggen. Bis zu 20 Millionen Deutsche sollen joggen gehen (der Rest überlegt sicherlich gerade), viele empfinden große Glücksgefühle dabei. Mehr als Laufschuhe benötigt man nicht, zumindest günstig ist der Sport. Und die Wissenschaft bemüht sich, einen mit immer neuen Studien zum Laufen zu motivieren: Joggen macht schlank, liest man, senkt das Risiko, an einer Herzkrankheit zu sterben um bis zu 40 Prozent, man schläft besser, Kopfschmerz und Migräne werden gelindert.

Unglaublich wenig Spaß

"Lockeres Joggen hilft Belastungen wie Stress, Ängste und Depressionen abzubauen", schreibt der Lauftherapeut Ulrich Bartmann in seinem Buch "Laufen und Joggen für die Psyche: Ein Weg zur seelischen Ausgeglichenheit". Derzeit noch zu betonen: Das Coronavirus mag frische Luft und Sonnenstrahlen nicht.

Es ist nur so, nicht jeder mag das Joggen. Interessante Randnotiz einer Studie dazu: Mäuse, die sich im Labor stundenlang in Laufrädern abmühten, wurden mutiger und weniger schmerzempfindlich - es ließ sich aber bei den Tieren "kein Glücksgefühl nachweisen". In fast jedem Buch übers Laufen wird im Vorwort beschrieben, wie der Autor oder die Autorin sich anfangs überwinden und quälen musste, mit dem Sport anzufangen, bis zum ersten Mal das große Rauschgefühl eintrat. Ich suche dieses "Runner's High" genannte Gefühl seit 20 Jahren vergeblich.

Alle paar Monate hole ich die Joggingschuhe raus und merke drei bis sechs Kilometer später, wie unglaublich wenig Spaß das alles macht. Eine Zeit lang bin ich regelmäßig an der Isar gelaufen, im Jahr 2010 habe ich beim Zehn-Kilometer-Neujahrslauf durch den Olympiapark mitgemacht. Die Erinnerungstasse, die jeder Teilnehmer bekam, steht noch im Schrank. Ich erinnere mich, wie ich bei der zweiten Runde durch den Olympiapark einen Läufer am Wegrand sah, der sich den Knöchel verdreht hatte und von Sanitätern weggetragen wurde. Der hat's gut, dachte ich, und lief nur weiter, weil die Freundin mit dem Kind im Zieleinlauf wartete.

"Bleib stehen, bleib stehen, bleib stehen"

"Beim Laufen passieren im Kopf bisweilen die erstaunlichsten Dinge", stellt Ex-Außenminister Joschka Fischer in seinem Buch "Mein langer Lauf zu mir selbst" fest. In "Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede" schreibt der japanische Schriftsteller Haruki Murakami: "Ich laufe, um Leere zu erreichen." Der Ex-CDU-Generalsekretär Peter Tauber sagte in einem Interview zu seiner Laufleidenschaft: "Ich will gar nicht, dass es schnell vorbei ist. Ich brauche die ersten Kilometer, um überhaupt runterzukommen. Und dann: nachdenken, was verarbeiten, was abhaken, abschalten, rumspinnen. Da reicht eine Stunde kaum."

Mal richtig abschalten, den Kopf frei kriegen, tiefe Gedanken, kreative Eingebungen - wie bitte geht das? Wie kann man nachdenken, wenn die Lunge brennt, die Beine schmerzen, der Kopf hin und her geschüttelt wird? In meinem Kopf gibt es dann nur einen, sich wie ein Mantra immer und immer wiederholenden Gedanken: "Bleib stehen, bleib stehen, bleib stehen."

Das geht beim Joggen gemeinerweise ja: Man kann einfach aufhören, und niemanden stört es. Beim Fußball macht man die fiesen Sprints in der 85. Minute auch deshalb, weil der Rest der Mannschaft hofft, dass man den Stürmer noch einholt. Beim Tennis verliert man den Punkt, wenn man den Ball nicht erreicht. Beim Snowboarden im Tiefschnee brennen die Beine auch, aber was für eine Menge Spaß man dafür kriegt! Joggen ist nie lustig, nie abenteuerlich, nie spannend, man läuft halt so vor sich hin. Als mein ehemaliger Mitbewohner aus einem gemeinsamen Jogginglauf eine Art Wettkampf machen wollte, wer länger durchhält, bin ich nach zwölf Kilometern rechts im Park abgebogen und mit der U-Bahn heimgefahren. Das war das Schönste an diesem Lauf: dass in der U3 keine Kontrolleure waren.

"Laufen ist die beste Medizin"

"Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft", hat der Olympiasieger Emil Zatopek mal gesagt. Laufen liegt in unseren Genen. Der Mensch rennt nicht besonders schnell, aber er kann über lange Strecken ausdauernd laufen. So wurden Beutetiere früher müde gemacht und doch noch erlegt. Andererseits: Es gab einen Grund, warum der Steinzeitmensch dann doch lieber den Bogen und das Anschleichen erfunden hat, die Menschheit Supermärkte und Autos baute. So toll kann das ewige Laufen durch die Steppe nicht gewesen sein. Und jetzt? Die Sportplätze bleiben alle noch eine Weile geschlossen.

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Vielleicht helfen Sprichworte. In Griechenland sagt man: "Willst du stark sein, so laufe. Willst du schön sein, so laufe. Willst du klug sein, so laufe. Laufen ist die beste Medizin." Und in China heißt es: "Es sind nicht unsere Füße, die uns bewegen, es ist unser Denken."

Ich denke, meine Füße sollten bald mal wieder joggen gehen.

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