Corona und Schutzmasken:Die Ohnmacht maskieren

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TOKYO, JAPAN - APRIL 07: People wearing face masks wait to cross a road as they walk to work the day before a state of emergency is expected to be imposed, on April 7, 2020 in Tokyo, Japan. Japans Prime Minister, Shinzo Abe, yesterday announced that the government intends to declare a state of emergency that will cover 7 of Japans 47 prefectures, including Tokyo and Osaka, as the Covid-19 coronavirus outbreak continues to spread in the country. The move will allow affected prefectures to take measures including expropriating private land and buildings and requisitioning medical supplies and food from companies that refuse to sell them. (Photo by Carl Court/Getty Images) (Foto: Carl Court/Getty Images)

In Japan ist der Mundschutz längst ein Modeaccessoire. Von Menschen aus dem Westen wurde er bislang kritisch beäugt. Doch das ändert sich gerade.

Von Thomas Hahn, Tokio

Im vergangenen Dezember musste das japanische Einzelhandelsunternehmen Aeon einräumen, dass es ein Maskenproblem hatte. Vom neuartigen Coronavirus sprach damals noch niemand, der Mangel von Masken zum Mund- und Nasenschutz war kein Thema. Und Aeon hatte auch nicht zu beklagen, dass die Mitarbeiter mit zu wenigen Masken ausgestattet waren. Im Gegenteil, die Firma fürchtete zu viele maskierte Kollegen. Kunden und Medien enthüllten, dass Aeon seinen Angestellten im direkten Kundenservice das Maskentragen "im Prinzip" untersagte. Trotz Schnupfen-und-Grippe-Saison. Ein Sturm der Entrüstung wehte durch die sozialen Medien, die Zeitung Yukan Fuji fragte kritisch nach, und eine PR-Person von Aeon erklärte kleinlaut, dass Ausnahmen von der Keine-Masken-Regel möglich seien: "Die Angestellten können mit ihren Vorgesetzten Kontakt aufnehmen und angemessene Maßnahmen ergreifen."

Wer weiß, vielleicht wächst der Glaube an die Maske auch in Deutschland eines Tages zur Religion. Vielleicht wird das japanische Beispiel das Vermächtnis der Coronavirus-Krise: Spätestens seit der H1N1-Pandemie von 2009/2010 ist der Mund- und Nasenschutz aus der Medizin in Japan zum Symbolartikel für Vernunft und Verantwortung im öffentlichen Raum aufgestiegen. Wer sich der Maske verweigert, riskiert Ansteckungen durch ungebremste Krankheitserreger - dieser Gedanke ist damals hängen geblieben in den Köpfen von Nippons Kollektivgesellschaft. Er findet sich in den Empfehlungen des japanischen Gesundheitsministeriums. Er wird von Einzelhandelsunternehmen eingefordert, wenn sie der verwegenen Annahme folgen, dass Kunden gerne das ganze Gesicht ihres Beraters sehen.

Und weil die Coronavirus-Krise Japan bisher weniger schlimm erwischt hat als die maskenfreien, kontaktfreudigen Gesellschaften Europas und Amerikas, steigt der Mundschutz auf der ganzen Welt im Ansehen. Masken zu nähen, ist eine neue Disziplin der Wohltätigkeit. Die Stadt Jena hat die Maskenpflicht für öffentliche Verkehrsmittel und Supermärkte vor Gericht verteidigt. Die Debatte über Sinn und Unsinn läuft.

Covid-19 schadet vielen kaum, anderen sehr. Das ist der gefährliche Charakter der hochansteckenden Lungenkrankheit, die das Coronavirus hervorruft. Wenn alle Masken tragen, verteilen also auch diejenigen weniger Viren, die sie unbemerkt mit sich herumtragen. Die Idee kann man nachvollziehen. Andererseits mangelt es medizinischem Fachpersonal an Schutzkleidung. Nicht jedes Stück Stoff hält Viren ab. Händewaschen bleibt wichtig. Man könnte lange streiten. Tatsache ist: Die Maske ist eine Hoffnung in unsicheren Zeiten, eine Ablenkung von der Ohnmacht. Man kann sie greifen, aufsetzen, verordnen. Das ist besser als nichts, wenn man ansonsten nur daheimbleiben und abwarten kann.

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Die Maske schien den Kulturunterschied zu offenbaren

Aber wann sind die Zeiten schon wirklich sicher? Diese Frage führt zu einer ewigen Angst, die nach dem Ende der H1N1-Pandemie in Japan offensichtlich noch so groß war, dass die Maske von den unscheinbaren Ecken der Supermärkte in ihre vorderen Regale aufrückte. Jedenfalls verstecken seither sehr viele Japanerinnen und Japaner ihr halbes Gesicht hinter Papiermasken diverser Fabrikate. Vor allem in ihren Riesenstädten und in den vollen Pendlerzügen gehört die Dame oder der Herr mit Mundschutz zum gewohnten Bild. Wer Schnupfen hat oder gerade erst eine Grippe auskuriert hat, soll damit nach ärztlichem Rat die Mitmenschen schützen. Selbstschutz vor den Viren anderer ist ein weiteres Motiv. Allergiker tragen die Masken gegen Pollen. Außerdem sind die Masken längst auch ein modisches Accessoire. Wer sich nicht ungeschminkt zeigen will, verbirgt damit den Umstand, dass die Morgentoilette kürzer ausfiel. Andere tragen Masken, um sich dahinter inmitten der Massen zurückzuziehen.

Für Ausländer aus dem Westen ist das bisher immer gewöhnungsbedürftig gewesen. Die Maske schien den Kulturunterschied zwischen offenen und geschlossenen Gesellschaften zu zeigen. Das Gesicht ist doch das Erste, was man sieht von einem Menschen. Es spiegelt Launen und Charakter. Wer frei atmen kann und nichts zu verbergen hat, lässt es nicht hinter Stoff oder Papier verschwinden. Die Maske dagegen steht für Krankenhaus und Krise. Wenn am U-Bahnsteig viele Personen mit großer Selbstverständlichkeit ihren Mundschutz trugen, wirkte das für den Gast aus Fernwest wie ein Bruch mit seiner Normalität. Als stimme etwas nicht, als könne man eben nicht frei atmen, als gäbe es etwas zu verbergen. Als hätte jemand den Leuten ihr Lächeln aus dem Antlitz radiert.

Die Maske macht das Gesicht zu einer erstarrten Fläche. Augen sagen auch was, können Japaner entgegnen - und das stimmt natürlich. Aber ein Gesicht besteht eben nicht nur aus Augen. Hinter der Maske erkennt man Menschen nicht gleich, die man gleich erkennen sollte. An der Kasse fühlt man sich wie von einem Automaten angesprochen, weil man keine Lippenbewegungen sieht. Die verbindliche Freundlichkeit, die zum japanischen Selbstverständnis gehört, wird aus der Situation herausgefiltert. Am Ende ist die Maske nicht nur eine Maske, sondern eine Art Barriere, an der die Sympathien abprallen.

Besser aufgehen in der Masse

Viele Japaner finden das nicht so schlimm. Sie sind ohnehin so erzogen, Gefühle für sich zu behalten. Nicht alle tragen ihre Maske korrekt, manchmal sitzt sie schief oder nicht über der Nase. Andere haben sie lässig über das Kinn geschoben, wenn sie mal eine Pause brauchen davon, ständig den eigenen Atem in der Nase zu haben. Aber die Maske hat sich für sie bewährt. Vielleicht gerade weil man damit nicht so leicht von den anderen zu unterscheiden ist und besser aufgehen kann in der Masse. Man sieht Mutter und Kind in Masken auf leeren Spielplätzen, maskierte Einzelgänger in stillen Straßen, ein Liebespaar, das seine Masken aus dem gleichen Stoff geschneidert hat. Und jetzt, in der Coronavirus-Krise, scheint diese japanische Haltung ja tatsächlich die gesündere zu sein. Geselligkeit hat zu Masseninfektionen geführt. Social Distancing ist das Gebot der Stunde. Die Maske ist der Star dieser trüben Zeit, begehrt, ersehnt, sogar umkämpft.

Es stimmt schon: In der Pandemie ist für Romantik kein Platz, die Gewohnheit ist zerbrochen. Wer an die Masken glaubt, fühlt sich jetzt sicherer damit, insofern ist es vielleicht gar nicht so wichtig, wie viel genau sie bringen oder nicht bringen. In Südkorea spottete man zu Beginn des Ausbruchs noch über Kollegen, die Masken trugen. Mittlerweile wird man dort schief angeschaut, wenn man in der U-Bahn keine trägt. Das Image eines Hilfsmittels verändert sich, wenn man ums eigene Wohlergehen fürchtet. Aber gerade deshalb wäre es schön, wenn man eines Tages wieder zu einem Alltag ohne Maske zurückkehren könnte. Denn woran erkennt man eine gesunde Gesellschaft mit reiner Luft? An ihren offenen Gesichtern.

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