Süddeutsche Zeitung

Stilkritik:Im Bann der Stinkefinger

Die Kulturgeschichte des ausgestreckten Mittelfingers reicht vom griechischen Dichter Aristophanes bis zum hanseatischen Ironiker Peer Steinbrück. Jetzt kommt eine neue Episode hinzu: Eine ältere Frau zeigt ihn für eine Berliner Corona-Präventionskampagne.

Von Oliver Klasen

Leider kann man Reinhard Krüger nicht mehr anrufen. Der frühere Stuttgarter Romanistik-Professor und Autor des Buches "Der Stinkefinger. Kleine Geschichte einer wirkungsvollen Geste" (Berlin, 2016) ist vor zwei Jahren unerwartet verstorben. Krüger hätte sicher Erhellendes zu erzählen gehabt, zur aktuellen Kontroverse um die Kampagne der vom Senat bezahlten Stadtmarketing-Agentur Visit Berlin. Die hat ein Plakat veröffentlicht, auf dem eine augenscheinlich etwas ältere Frau mit Gesichtsmaske zu sehen ist, die allen, die sich nicht an die Corona-Regeln halten, den ausgestreckten Mittelfinger zeigt.

Der Professor hätte zum Beispiel analysiert, dass es sich in diesem Fall um die germanisch-mitteleuropäische Variante des Stinkefingers handelt, bei der die vier anderen Finger zur Faust geballt werden, während bei der griechisch-römischen Version Zeige- und Ringfinger so gekrümmt werden, dass sie die beiden Hoden darstellen. Krügers kleiner Vortrag über die Kulturgeschichte des Stinkefingers hätte vermutlich beim griechischen Dichter Aristophanes (423 v. Chr.) begonnen - mit einem kleinen Schlenker über die Dame Liz Taylor und die Herren Johnny Cash und Stefan Effenberg (allesamt 20. Jahrhundert) - und wäre dann beim hanseatischen Ironiker Peer Steinbrück (2013) geendet.

Der regierende Bürgermeister findet die Kampagne "peinlich"

Der hat es geschafft, als SPD-Kanzlerkandidat auf dem Cover des SZ-Magazins den Stinkefinger zu zeigen und trotzdem fast 26 Prozent der Stimmen zu holen, aus heutiger Sicht ein sensationeller Erfolg. Von Steinbrück gab es damals kein verdruckstes Statement zu hören. "Sorry ... nicht so gemeint gewesen ... übers Ziel hinausgeschossen ... wollte keine Gefühle verletzen." Der Finger war in der Welt, und Steinbrück stand dazu, für einen Moment seinem Impuls nachgegeben zu haben.

Inzwischen ist die Stimmung nervöser, wegen Twitter und auch wegen der großen Seuche. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller nennt das Plakat mit der Seniorin "peinlich" und hat die Kampagne gestoppt. Ein Abgeordneter im Berliner Senat hat sogar Strafanzeige gestellt. Schade eigentlich. Denn vielleicht wäre gerade jetzt die Zeit gewesen, in Steinbrück-Manier mal energisch zu werden. Es kann einen ja durchaus die Wut packen, angesichts einer Gesellschaft, die seit Wochen sehenden Auges und wider besseres Wissen auf eine neue Gefahr zusteuert. Und außerdem, mal ganz ehrlich, wer in Berlin würde ein Plakat ernst nehmen mit dem Slogan: "Ick würd mir echt freuen, wennde so freundlich wärst und bitteschön die Maske uffziehen würdest".

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