Wenn alles gut geht, wird Matthias Heimbach nächste Woche nach Hause kommen. Er zählt jetzt die Tage im Countdown bis zum 25. Mai, wenn es wieder losgehen soll, und behält gleichzeitig eine andere Zahl im Auge, die Inzidenz. Die bleibt jetzt mal bitte dauerhaft unter 100, sonst wird das nämlich wieder nichts.
In einem Becken unweit der Münchner Innenstadt in einem Jugendwohnheim wird jetzt schon mal das Wasser eingelassen, ein Schwimmbad kann man ja nicht von einem auf den anderen Tag fertig machen, das dauert eher eine Woche. An einem anderen Übungsort von Heimbachs Schwimmschule "Flipper", einem öffentlichen Hallenbad etwas außerhalb der Stadt, ist zum Glück schon alles darauf eingerichtet, dass kleine Menschen wieder mit großen Schwimmnudeln durchs Wasser pflügen, nach Ringen tauchen und irgendwann vielleicht stolz ein Abzeichen in der Hand halten. Das Seepferdchen, leicht aufnähbar auf Badehosen und -anzüge und seit Generationen sichtbares wie stolzes Zeichen für: Ich kann mich über Wasser halten, zumindest für eine begrenzte Zeit.
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Sieben Monate konnte Matthias Heimbach, 38, weitgehend keine Kurse anbieten. Nun bald wieder am und im Wasser zu sein, der Chlorgeruch, die Kinder, sagt er am Telefon, das sei für ihn eben wie "nach Hause kommen". Wegen der großen Nachfrage nach seinen Kursen hat er kurzfristig noch eine zusätzliche Lehrerin organisiert, wer jetzt noch anruft und sich anmelden will, bekommt frühestens im Herbst einen Platz.
Ihm werden nun kleinere Fragen am Telefon gestellt: Bekomme ich mein Geld zurück, wenn die Inzidenz wieder steigt? Brauchen die Kinder eine Maske? Aber hinter all dem stellt sich natürlich eine größere, grundsätzlichere Frage: Was für Folgen hat es, wenn bis zu zwei Jahrgänge von Kindern gar nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen lernen, sich über Wasser zu halten?
Schwimmen lernen ist kein reines Vergnügen. Zum einen ist da der komplexe Bewegungsablauf, der technisch viel abverlangt und neben Geduld und Übung meist auch einen Lehrer und eine Lehrerin erfordert. Zum anderen aber ist es ein Sport, der irgendwann nicht nur Spaß macht - das sanfte Gleiten im Wasser, das Gefühl der Schwerelosigkeit - sondern der auch schützt: Wer Brustzüge und die Froschbeintechnik beherrscht oder gar Kraulen kann, schützt sich viel besser vor dem Ertrinken - noch immer eine der häufigsten Todesursachen im Kindesalter. Allein im vergangenen Jahr starben in Deutschland 18 Kinder im Vorschul- und fünf Kinder im Grundschulalter im Wasser.
Weil also durchaus ein gesellschaftliches Interesse daran besteht, dass Kinder und damit spätere Erwachsene schwimmen können, gibt es nicht nur kommerzielle Anbieter wie Matthias Heimbach oder Kurse bei der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft (DLRG), sondern auch Schwimmunterricht an Grundschulen, meist in der zweiten oder dritten Klasse. Theoretisch. Nach 15 Monaten Pandemie und größtenteils ausgefallenem Unterricht haben nach einer Schätzung der DLRG 70 000 Kinder in diesen Monaten nicht gelernt, sicher zu schwimmen. Und sie hat gerade weitere Zahlen dazu veröffentlicht. So wurde im vergangenen Jahr nur noch 14 566 Mal ein Seepferdchen-Abzeichen überreicht, ein Rückgang von über 70 Prozent.
"Signifikant mehr Nichtschwimmer in Deutschland"
Schon vor der Pandemie konnten laut DLRG fast ein Viertel aller Grundschulen keinen Schwimmunterricht mehr anbieten, einfach, weil ihnen keine Bäder zur Verfügung standen. Eine Forsa-Erhebung war schon 2017 zu dem Ergebnis gekommen, dass rund 60 Prozent der Grundschüler Nichtschwimmer oder schlechte Schwimmer sind. Und jetzt? Nun gebe es, und zwar vor allem durch Corona, "signifikant mehr Nichtschwimmerinnen und Nichtschwimmer in Deutschland", sagt Achim Haag, Präsident der DLRG.
Spricht man mit Verbänden, Schwimmlehrern und Funktionären, erklären sie ziemlich einhellig, sie trügen die Pandemiemaßnahmen der Regierung an sich ja mit. Und doch fühlten sie sich vonseiten der Politik bisweilen zu wenig gehört. Die vergangene Freibadsaison mit ausgetüftelten Bäder-Pandemie-Plänen und neu eingeführten Ticket-Modellen sei doch ziemlich gut gelaufen. Laut Christian Mankel, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für das Badewesen, habe es "weder Infektionsherde noch Hotspots" gegeben.
In diesem März kam eine Studie des Hermann-Rietschel-Instituts der TU Berlin zu dem Ergebnis, dass selbst Schwimmhallen mit einer auf 75 Prozent reduzierten Auslastung mit einem R-Wert von 0,5 ein deutlich geringeres Ansteckungsrisiko aufweisen als beispielsweise ein Büro mit einer Auslastung von nur 20 Prozent und Maskenpflicht - da liegt der R-Wert bei 1,6. Eine Übertragung in gechlortem Wasser an sich gilt als sehr unwahrscheinlich.
In Berlin öffnen am Freitag elf Bäder
Aber während Hotels inklusive Wellness-Bereichen teilweise wieder öffnen können, fehle es bei Hallenbädern, so Christian Mankel, an einer "einheitlichen Perspektive". Ein "großes, flächendeckendes Öffnungsdatum" sei noch nicht klar absehbar. Immerhin, in Freibädern kann man zum Teil schon wieder seine Bahnen ziehen oder Wasserball spielen, bei stabil niedriger Inzidenz könnte es dort also eine Saison wie im vergangenen Jahr werden. Berlin öffnet an diesem Freitag elf Freibäder, allerdings nur für diejenigen, die einen negativen Corona-Test vorweisen können.
Nur: Geöffnete Freibäder, so toll sie vor allem auch für Kinder sind - mit Wasserrutschen, Pommes und Faul-auf-der-Wiese-Liegen - sie lösen das aktuelle Schwimm-Dilemma nicht. Die DLRG plant nun, Kurse vor allem in den Ferienzeiten anzubieten und hofft dabei auf die Unterstützung der Kommunen. Auch woanders zeigen viele Eigeninitiative, so haben einzelne Badbetreiber in Bayern beantragt, für den Schulsport ihre Becken öffnen zu können. In Sachsen gibt es Bemühungen, im Sommer für Grundschüler Schwimmlager anzubieten.
Matthias Heimbach, der Münchner Schwimmschulleiter, war über 20 Jahre Leistungssportler, er konnte sich schon mit fünf Jahren über Wasser halten. Bis heute ist es sein Element, in vorpandemischen Zeiten schwamm er jede Woche mindestens drei Kilometer, Kraulen, Brust, Rücken, einfach "um den Kopf freizubekommen". Ging aber die vergangenen Monate nicht, also hat er ein bisschen im Garten gearbeitet, gezupft, gemäht, gebuddelt. Aber das, sagt er, "hat es nicht ersetzt".