Als im vergangenen Frühjahr die Corona-Infektionszahlen auch in Großbritannien rasant anzusteigen begannen, stellte sich heraus, dass die Krankenhäuser für so viel Andrang nicht ausgestattet waren. Unter anderem fehlten einfache Kittel.
Damals bot die English National Opera (ENO), neben der Royal Opera das zweite große Londoner Opernhaus, dem für die Gesundheitsversorgung im Nordwesten der Stadt zuständigen Imperial College NHS Trust an, ihre Kostümabteilung könne solche Kleidung liefern. Das Angebot wurde dankbar angenommen.
Großbritannien:Letzte Runde nach 455 Jahren
Pubs gehören zu England wie die Queen. Doch ihre Zukunft sieht düster aus, wie das Beispiel von Lamb & Flag in Oxford zeigt. Nun gingen dort für immer die Lichter aus - nach fast einem halben Jahrtausend.
Es war der Beginn einer Partnerschaft, die im darauffolgenden Sommer in einem innovativen Programm mündete: "Breathe" nutzt das Wissen und Training von Sängern, Gesangstrainern und Blasmusikern, um Corona-Patienten bei der Genesung zu unterstützen.
"Singen wurzelt im Atmen"
Die ENO habe schon lange ein besonderes Interesse an der Schnittstelle zwischen Gesundheit und den Künsten, sagt Jenny Mollica. Sie leitet das Pädagogik- und Projektprogramm der Oper, und ist nun auch bei "Breathe" federführend.
"Im Juni begann das Phänomen 'Long Covid', ein immer drängenderes Problem zu werden", erzählt Mollica. "Uns wurde klar, dass die Fähigkeiten, die unsere Künstler mitbringen, helfen könnten, einige der Probleme anzugehen, die man mit den Langzeitfolgen einer Corona-Erkrankung assoziiert."
Der Begriff "Long Covid" umfasst eine Reihe von Symptomen, die noch vier bis zwölf Wochen nach dem Abklingen der akuten Erkrankung auftreten können. Dazu können Brust-, Kopf- und Gelenkschmerzen, aber auch Schwindel, Tinnitus und Ausschläge zählen. Die häufigsten sind jedoch Atemlosigkeit und Beklemmungsgefühle bis hin zu permanenten Angstzuständen.
Hier setzt "Breathe" an: "Singen wurzelt im Atmen", sagt Jenny Mollica. Gemeinsam mit einem Team von Atemwegsexperten habe die Gesangsexpertin Suzi Zumpe ein Programm entwickelt, das sozusagen im Kleinen eine Gesangsausbildung nachvollziehe. Es beinhalte die Haltung, bewusstes Atmen und die Stimmbildung. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, zu singen, sondern darum, wieder ein Gefühl dafür zu bekommen, wie man Zwerchfell und Lunge effektiv einsetzt. Niemand ist verpflichtet, etwas vorzusingen.
Viele Teilnehmer hatten traumatische Erfahrungen
Aber gesungen wird natürlich auch, und zwar vor allem Wiegenlieder aus der ganzen Welt. Dafür gibt es laut Jenny Mollica mehrere gute Gründe: "Man braucht dafür keinen großen Stimmumfang, sie sind universell und schaffen vor allem eine beruhigende Atmosphäre. Viele Teilnehmer hatten traumatische Erfahrungen, waren oft an Atemgeräte angeschlossen und lagen auf Intensivstationen."
Einschlaflieder wirken entspannend und meditativ. Besonders beliebt seien der "Abendsegen" aus Engelbert Humperdincks Oper "Hänsel und Gretel" und "Summertime" aus George Gershwins "Porgy and Bess". Das liege auch an der "optimistischen, hoffnungsvollen Botschaft" des Songs.
Teilnehmen können Menschen landesweit, die acht Wochen oder mehr Beschwerden haben und vorher von einem Spezialisten untersucht worden sind. Die Teilnehmer treffen sich sechs Wochen lang allwöchentlich für eine Stunde online.
Musiker bekommen eine Beschäftigung, die systemrelevanter nicht sein könnte
Zusätzlich gibt es Internet-Ressourcen wie Lehrvideos, die die Patienten zwischen den Sitzungen ansehen können, um ihre Übungen zu vertiefen. "Je mehr man auf eigene Initiative macht, desto mehr wird man von dem Programm profitieren", sagt Mollica. Die ENO-Sänger haben auch Lieder aufgenommen, die die Patienten sich anhören können.
Die Mediziner waren sehr positiv überrascht, wie oft auf die Angebote zugegriffen wurde. Die Klickzahlen lagen weit höher als bei normalen pulmonalen Online-Rehabilitationsprogrammen. "Das liegt eindeutig am künstlerischen Element", glaubt Jenny Mollica. "Wir nennen das learning by stealth - lernen durch die Hintertür." Das Programm sei ein "entmedizinisierter Heilungsweg", der zugleich den Nationalen Gesundheitsdienst NHS entlaste.
Nach dem Pilotprogramm, das im Herbst begann und auf London beschränkt war, berichteten 90 Prozent der Teilnehmer, dass das Programm ihnen beim Atmen geholfen haben, 91 Prozent, dass ihre Ängste reduziert wurden. Nun wird "Breathe" auf rund 1000 Teilnehmer an 25 Standorten landesweit ausgedehnt. Erfreulicher Nebeneffekt: "Breathe" bietet professionellen Musikern, die angesichts geschlossener Konzert- und Opernhäuser wenig zu tun haben, eine Beschäftigung, die systemrelevanter nicht sein könnte.