SZ-Kolumne "Alles Gute":Unterm Beercony

Corona und Alltag
(Foto: Steffen Mackert)

Eigentlich wollen sie nur mit einem Korb kleine Geschenke an die verteilen, die unter ihrem Balkon spazieren gehen. Aber sehr schnell wird klar: Das größere Geschenk ist, einander zuzuhören.

Von Jürgen Schmieder

Es war ein Hobby, mehr nicht: Man lässt ein paar Dinge, zum Beispiel aufgeklaubte Muscheln oder Sand vom nahen Pazifikstrand, in flüssiges Kunstharz plumpsen, verziert sie mit Perlen und Alkoholtinte und ist dann 24 Stunden später perplex, welche Formen sich nach der Aushärtung gebildet haben. Vor zwei Wochen allerdings hieß es, dass unser Strand auf unbestimmte Zeit gesperrt sei, was in Kalifornien das Gleiche bedeutet wie in Bayern die Schließung der Biergärten: Die Lage ist sehr ernst, und ein paar Dinge bekommen dann eine neue Bedeutung. Muscheln und Sand zum Beispiel.

Wir verteilen seitdem desinfizierte Kunstharz-Gebilde über einen Rotkäppchen-Korb an alle, die sich unter unseren Balkon verirren. Der ist kaum größer als eine Badewanne, wir nennen ihn wegen Heimweh und wegen der Verkleidung als Biergarten nur "Beercony", aus bekannten Gründen ist er derzeit für Gäste gesperrt. Die Lage ist ernst, und es könnte nicht weniger um diese selbst gemachten Schmuck-Anhänger gehen. Viel wichtiger sind die Geschichten der Besucher.

Die Krankenschwester, gerade erst kennengelernt, berichtet von ihrem Tag auf der Intensivstation in einem Krankenhaus in Los Angeles. Sie hört gar nicht mehr auf, doch das ist überhaupt nicht schlimm - ganz im Gegenteil: Sie zeichnet kein Horror-Szenario, sie will weder Dank noch Anerkennung noch Mitleid, sie will auch keinen Bleib-gefälligst-daheim-Appell loswerden. Sie will einfach nur erzählen, was sie die vergangenen zwölf Stunden getan hat und was sie die nächsten zwölf Stunden tun wird, bevor ihre nächste Schicht beginnt, und offenbar will sie, dass ihr einfach nur mal jemand zuhört: Sie werde allein sein, in ihrer engen Wohnung, deshalb freue sie sich nun über diesen kleinen Anhänger und dieses Gespräch.

Da ist das Ehepaar, beide über 80 Jahre alt, das erzählt, wie sehr es Umarmungen der Enkel vermisse. Da ist der Achtjährige, der an diesem Tag seinen Geburtstag feiert und mal loswerden will, wie sehr ihn Mama und Papa mit ihren unsinnigen Verboten während der Quarantäne nerven. Der Nachbar, der eine Flasche Whiskey dabei hat und sagt, dass er ganz dringend einen heben müsse, von Angesicht zu Angesicht, er habe gerade seinen Job verloren.

Diese Leute, sie wollen einfach nur reden, und wir lernen eines der schönsten Geschenke, die man jemandem derzeit machen kann: nicht zu warten, bis man selbst wieder dran ist mit Reden. Sondern einfach mal zuzuhören.

In jeder Krise passiert auch Gutes, selbst wenn man es nicht immer auf den ersten Blick erkennen kann. In dieser Kolumne schreiben SZ-Redakteure täglich über die schönen, tröstlichen oder auch kuriosen kleinen Geschichten in diesen vom Coronavirus geplagten Zeiten. Alle Folgen unter sz.de/allesgute

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