Süddeutsche Zeitung

Kino in Corona-Zeiten:Leinwand aus Stein

Wenn die Menschen nicht ins Kino gehen dürfen, kommt das Kino eben zu den Menschen. In Städten wie Rom, Paris oder Berlin gibt es schließlich genug kahle Häuserfassaden.

Von Verena Mayer, Berlin

Dass Hausmauern in Berlin mehr sind als Gebäudeteile, weiß jeder, der schon mal eine Stadtrundfahrt gemacht hat. Viele Fassaden sind mit Graffiti oder großflächigen Kunstwerken bemalt, oder es hat zumindest jemand seine Meinung zum Weltgeschehen hinterlassen. Die Häuser, auf die Dinge wie "Bonjour Tristesse" oder "Fickt eusch allee" geschrieben wurden, sind Kult. Neu ist hingegen, Häusermauern als das zu nehmen, was sie sind: riesige und oft leere Flächen, auf die viele Leute gucken müssen. Und die deswegen wie geschaffen sind, um Filme zu projizieren. Leinwände aus Stein gewissermaßen.

Auf denen läuft seit einigen Wochen nun Programmkino. Es gab auf Häusermauern "Loving Vincent" zu sehen, einen aus den Motiven von Ölgemälden animierten Film über den Maler Vincent van Gogh. Über eine Brandmauer flimmerte der Schwarz-Weiß-Film "The Artist", der die Stummfilmzeit in Szene setzt und eine Liebeserklärung an die Filmkunst als solche ist. Nur dass diese gerade nicht in einem Kinosaal gezeigt wird, sondern an Donnerstagen und Samstagen in Berliner Hinterhöfen stattfindet.

Spätabends versammeln sich die Bewohnerinnen und Mieter einzeln am Fenster oder mit der Familie auf dem Balkon, oder sie stehen im Hof mit mindestens 1,50 Metern Abstand zwischen Fahrradständern und Mülltonnen und gucken den Himmel über Berlin an, buchstäblich und als Film.

Der Grund dafür ist natürlich die Corona-Krise. Die seit Wochen geschlossenen Berliner Kinos sind von den Lockerungen des öffentlichen Lebens ausgenommen, sie werden wohl erst Anfang Juni wieder öffnen dürfen, sagte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller am Dienstag. Ob sie dann überhaupt öffnen können, ist eine andere Frage - so manches kleine Innenstadtkino, das wegen der hohen Mieten ohnehin schon auf der Kippe steht, wird nach der Corona-Pause wohl endgültig aufgeben.

Mit Ausnahmezuständen kennt Berlin sich aus

Doch Berlin wäre nicht Berlin, wenn es in der Krise nicht seine kreativen Kräfte freisetzen würde, Ausnahmezustände gehören schließlich zur Geschichte der Stadt wie der Fernsehturm oder das Brandenburger Tor. In diesem Fall war es der Architekt Olaf Karkhoff, der nicht hinnehmen wollte, nicht mehr ins Kino gehen zu können.

Karkhoff, 54, Berliner und in einem Moabiter Hinterhof aufgewachsen, beschäftigt sich eigentlich mit Lichtforschung und damit, wie man Beleuchtung im öffentlichen Raum sicher für Insekten macht. Deswegen hatte er ein paar große und leistungsstarke Projektoren bei sich stehen, und die schnappte er eines Tages und baute sie in einem Wohnhaus in Prenzlauer Berg auf. Die Mieter wurden erst per Handzettel informiert, dann bekamen sie durch die Wohnungstür Popcorn gereicht - und irgendwann war das Ganze so bekannt, dass Karkhoff jetzt täglich unzählige Mails von Mietern abarbeitet, die sich um einen Abend mit Fassadenkino bewerben.

Er beschafft die Filme und klärt deren Rechte, er guckt sich in den Höfen an, welche Stelle zwischen Vorderhaus, Seitenflügel und Hinterhaus am besten für eine Vorführung geeignet ist, und dann baut er seine Ausrüstung in einer Privatwohnung oder im Treppenhaus auf.

Das Kino kam immer schon dorthin, wo die Leute sind, in vielen kleinen Orten in Italien oder Frankreich werden regelmäßig Filme auf dem Dorfplatz gezeigt. Italien und Frankreich waren dann auch die Länder, in denen die Menschen in der Corona-Isolation das Fassadenkino für sich entdeckten.

In Rom belebte die Initiative #Cinemadacasa die verlassenen Plätze und Gebäude zumindest mit Filmbildern. In Paris nutzt das Programmkino "La Clef" im Quartier Latin, das seit einigen Jahren gegen seine Schließung kämpft, nun einfach die angrenzende Brandmauer, um Filme zu zeigen.

Kindergeburtstag mit "Shaun das Schaf"

Das Berliner Fassadenkino, das inzwischen mit einer Programmkinogruppe zusammenarbeitet und eine Spendenkampagne für die kleinen Kinos der Hauptstadt unterstützt, nennt sich "Window Flicks". Eine Anspielung auf den Streamingdienst Netflix, der in Zeiten von Corona boomt, von dem man sich aber grundlegend unterscheiden wolle, sagt Initiator Karkhoff. Denn Streamingdienste konsumiere man zurückgezogen, jeder für sich auf dem Sofa - das Fassadenkino hingegen sei ein Gemeinschaftserlebnis.

Die Nachbarschaft kommt zusammen, so wie letztens am Geburtstag einer Sechsjährigen in Berlin-Schöneberg. Dem Mädchen, das wegen der Kontaktbeschränkungen keine Freunde einladen durfte, stand der schlimmste Geburtstag seines Lebens bevor, die Eltern, ein Paar aus Schweden, wandten sich an die Leute vom Fassadenkino. Am Ende standen alle Hausbewohner und Nachbarinnen mit Wunderkerzen am Balkon, und auf der Hausmauer lief "Shaun das Schaf". Eine Wendung, die kein Film über die Kraft des Kinos besser hinbekommen hätte.

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