China:Sonderzug ins Chaos

Lesezeit: 2 min

Zum chinesischen Neujahrsfest reisen 188 Millionen Menschen mit der Bahn quer durchs Land - der Kampf um die Fahrkarten endet manchmal tödlich.

Henrik Bork, Peking

Eine Rekordzahl von Chinesen kämpft derzeit auf den Bahnhöfen des Landes um Fahrkarten. Rund um das chinesische Neujahr, das dieses Jahr auf den 26. Januar fällt, werden 188 Millionen Bahnreisende erwartet. Das sind mehr als je zuvor und acht Prozent mehr als im vergangenen Jahr.

Bahnhof in Shanghai: Fast alle Chinesen wollen zum Neujahrsfest verreisen, nicht allen gelingt es. (Foto: Foto: AP)

Das Neujahrsfest nach dem traditionellen Mondkalender, auf Chinesisch auch Frühlingsfest ("chun jie") genannt, ist das wichtigste Familienfest des Landes. In der Hauptreisezeit vom 11. bis zum 19. Januar wird zusätzlich die Rekordzahl von rund 24 Millionen Flugreisenden erwartet, eine Steigerung von 12 Prozent zum Vorjahr. 31 Millionen Menschen werden mit dem Schiff reisen. Und es werden, weil jeder Chinese mehr als eine Strecke zurücklegt, schätzungsweise zwei Milliarden Busfahrscheine verkauft werden.

Doch nirgends wird es so ungemütlich werden wie in den schon jetzt hoffnungslos überfüllten Zügen, in denen die Menschen oft mehrere Tage und Nächte lang stehend eingequetscht sind, bis sie ans Ziel gelangen. Trotz eigens eingerichteter Sonderschalter herrscht derzeit auf allen Bahnhofsvorplätzen des Landes eine Art von Ausnahmezustand.

Der Kampf um die Tickets ist hart. Dabei kam es in Hangzhou zu dem ersten tödlichen Unfall dieser Reisesaison. Ein 60-jähriger Mann brach nach einer durchwachten Nacht in einer Warteschlange zusammen und starb wenig später in einem Krankenhaus.

Der Fall erinnert viele Chinesen an die Tragödie kurz vor dem Neujahrsfest des letzten Jahres, als eine 19-jährige Studentin von einem mit 600 Menschen völlig überfüllten Bahnsteig geschoben wurde und von einem einfahrenden Zug getötet wurde. Ein anderer Mann war in Guangzhou im Februar 2008 zu Tode getrampelt worden, nachdem in einer Menge von 260.000 Menschen eine Panik ausgebrochen war.

Vergangenes Jahr mussten die Reisenden besonders viel leiden. Millionen Menschen campierten tagelang vor den Bahnhöfen, weil wegen schwerer Schneefälle ein Teil des Streckennetzes ausgefallen war. Chinas Premier Wen Jiabao hatte damals eine Bahnhofshalle besucht und sich für das Chaos entschuldigt. Dieses Jahr wird daher im Verkehrsministerium und auf allen Bahnhöfen rund um die Uhr gearbeitet. Angesichts des riesigen Passagieraufkommens fließt der Verkehr bislang erstaunlich reibungslos.

Schnee gibt es in diesem Jahr kaum. Dafür aber macht sich die internationale Wirtschaftskrise bemerkbar, die auch China schwer getroffen hat. Sie lässt die Zahl der Heimreisen offenbar noch weiter ansteigen. "In ganz China haben 4,8 Millionen Wanderarbeiter ihre Arbeitsplätze auf Baustellen in den Städten und in Fabriken verloren und sind auf dem Weg in ihre Heimatdörfer", berichtet die Zeitung Südliches Wochenende.

Solche Zahlen sind in China in der Regel nur eine Annäherung, weil nur regulär angestellte Arbeiter gezählt werden. In den vom Export lebenden Textilfabriken an der Ostküste hat seit Beginn der weltweiten Wirtschaftskrise eine Konkurswelle eingesetzt. "670.000 kleinere Betriebe haben bereits geschlossen und 6,7 Millionen Menschen sind arbeitslos geworden"', sagte der Berater des Staatsrates Chen Quansheng. Doch Millionen von Bauernsöhnen, die sich als Wanderarbeiter verdingt hatten, tauchen erst gar nicht in solchen Statistiken auf.

Ein Beispiel dafür ist der 23-jährige Chen Hemei, der bis vor kurzem in einer Aluminiumfabrik in der südchinesischen Stadt Qingyuan gearbeitet hat. Vor einigen Tagen hat er sich die 150 Yuan (rund 17 Euro) für eine Bahnfahrkarte geliehen, um einen wenig ruhmreichen Rückzug in sein Heimatdorf in der Provinz Sichuan anzutreten.

Als die Auftragsbücher der Aluminiumfabrik leer waren, hatte das Management die Löhne reduziert. "Ich bin nicht entlassen worden, aber ich habe einfach kein Geld mehr für die Miete und mein Essen", erzählte Chen einem chinesischen Reporter. Wie viele andere Wanderarbeiter wird er dieses Jahr wohl ein eher freudloses Frühlingsfest verbringen. Aber erst nach einer 17-stündigen Zugfahrt dritter Klasse, also im Stehen.

© SZ vom 19.1.2009/bica - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: