Süddeutsche Zeitung

China:Ich, Prüfungsmaschine

Eigentlich sind Sommerferien ja zur Erholung gedacht, oder nicht? In China jedoch büffeln viele Kinder einfach weiter. Schuld daran sind meist die Eltern, die sich um die Zukunft ihres Nachwuchses Sorgen machen.

Von Kai Strittmatter, Peking

Ferien gibt es theoretisch auch in China. Die kleine Anli zum Beispiel, bald zwölf Jahre alt, eben die fünfte Klasse hinter sich: Anli wohnt im Zentrum Pekings, in einem kleinen Haus nahe beim Hinteren See. Sie steht jeden Morgen um fünf auf, geht dann laufen. So früh aufstehen müsste sie jetzt gar nicht, es sind ja Sommerferien. Aber sie ist es so gewohnt, von der Schulzeit. Frühstücken, lesen, ein bisschen zeichnen. Um neun Uhr dann setzt sie sich an ihren Schreibtisch, zieht ihre Bücher hervor. Hausaufgaben. "Aber ich gehöre zu den Glücklichen", sagt Anli. "Um zwölf bin ich meistens schon fertig."

Hausaufgaben. Jeden einzelnen Ferientag. Sechs Sommerwochen lang: Hausaufgaben. Auch am Wochenende: Hausaufgaben. Die Ferien sind diesen Donnerstag schon wieder vorbei, aber nein, sagt Anli, erholt fühle sie sich nicht. Klar, es ist kein Vergleich mit der Schulzeit, in denen sie oft erst um Mitternacht ins Bett fällt. Und klar, sie hatte eines der besten Zeugnisse ihrer Klasse, zur Belohnung hatte sie nun ein Gutteil weniger auf als die meisten Mitschüler. Und dennoch - das hier waren Anlis Hausaufgaben in den vergangenen sechs Wochen, Pekinger Oststadt, Grundschule, fünfte Klasse. Mathematik: Zehn Seiten aus dem Übungsheft; ein Aufsatz zum Thema "Empfehle ein gutes Buch über Mathematik"; ein Mathematik-Tagebuch ("Heute ging ich mit Mama in den Supermarkt. Sie kaufte 3 Pfund Äpfel zu je . . ."); täglich Kopfrechenspiele mit den Eltern. Englisch: Im Übungsheft alle 100 Aufgaben vollenden; jeden Tag in der App "Wir machen zusammen Hausaufgaben" anmelden und die neuesten Aufgaben des Lehrers herunterladen; die Vokabeln aus dem Lehrbuch für die neue, die kommende sechste Klasse abschreiben. Chinesisch: Das Lehrbuch für die sechste Klasse vorbereiten (die Zusammenfassungen der ersten sieben Kapitel abschreiben); von den ersten 32 Kapiteln die zum Auswendiglernen markierten Absätze abschreiben; zwei Essays, je eine Din-A4-Seite, über zwei Romane, die man sich aussuchen durfte ("Ich habe mir 'Die Stadt der Katzen' ausgesucht, von Lao She"); außerdem sechs Aufsätze, ein jeder nicht unter 400 Schriftzeichen, über ihre Erlebnisse während der Ferien. "Aber was habe ich denn erlebt?", fragt Anli.

Ach ja, und der Sport: In einem Formular führt Anli Buch über die drei Kilometer, die sie jeden Tag läuft. Manchmal übt sie Weitsprung, auf dem Asphalt der Gasse vor ihrer Haustür. Außerdem müssen die Eltern beim Klassenlehrer eine Evaluation ihres Benehmens abliefern, Bonuspunkte gibt es für "zivilisiertes Verhalten" und "Respekt vor Älteren". "Beim Essen kriege ich nicht die volle Punktzahl", sagt Anli. "Ich bin ein wenig heikel, esse keine Pilze - aber dafür mag ich Brokkoli!"

Der Vater Ma Xiaorong macht sich Sorgen. "Das war doch bei uns früher nicht so", sagt er. "Wir konnten damals noch vor die Tür gehen, spielen, Spaß haben." Als Anli beim Englischvokabel-Abschreiben die Hand so schmerzte, dass sie den Stift nicht mehr halten konnte, da sprang der Vater ein: "Ich habe den Rest abgeschrieben. Das waren noch einmal 30 bis 40 Seiten." Viele Eltern tun es ihm gleich. "Wenn ich die Hausaufgaben mache", sagt eine befreundete Mutter, "dann wird mein Sohn viel öfter gelobt vom Lehrer. Das ist gut für ihn."

Es gibt noch einen Ausweg: Hausaufgabenagenturen, allein beim Onlineshopping-Portal Taobao bieten mehr als 2000 ihre Dienste an. "Sie kommen erst jetzt?", ruft am Telefon der Leiter der Agentur "Magischer Stift" aus Fujian. "Es ist Ferienende, was meinen Sie, was hier los ist? Wir sind ausgebucht." Die Agentur ist billig: Umgerechnet 1,50 Euro nehmen sie normalerweise für 1000 Schriftzeichen. Gegen Ferienende steigen die Preise. Und, ja: "Wir imitieren die Handschrift Ihres Kindes perfekt." Der Chef hat selbst Mitleid mit seinen Kunden. "Neulich rief uns einer an, dessen Sohn hatte allein in Biologie 40 Hausaufgaben. Nur ein Fach! Schrecklich."

Die Mutter warnt: "Wenn du nicht in eine gute Uni kommst, dann ist dein ganzes Leben kaputt."

"Sollten die Sommerferien nicht eine Zeit der Freude sein?", fragte die Zeitung China Daily. "Stattdessen erdrücken wir unsere Kinder unter Hausaufgaben." Und: "Wollen wir unsere Kinder nicht zu innovativem Denken erziehen?", fragt das Blatt weiter, "wie soll das denn gehen, wenn sie nicht einmal mehr die Zeit zum Denken haben?" Der neueste TV-Hit bei Chinas geplagter Mittelschicht ist die Serie "Kleiner Abschied". "Du willst, dass ich dich respektiere?", brüllt da die Tochter Duoduo ihren Vater an. "Du behandelst mich wie eine Prüfungsmaschine." Auf den Straßen der Städte sieht man Chinas Kinder kaum: Sobald sie eingeschult werden, verschwinden sie hinter ihren Schul- und Schreibtischen - und werden erst nach dem Uni-Abschluss wieder ausgespuckt. Alle schimpfen auf die Lehrer, aber das ist nur die halbe Wahrheit: "Es sind die Eltern, die so Druck machen", sagt Ma Xiaorong, der Vater der Fünftklässlerin Anli. "Ein jeder hat panische Angst, sein Kind könnte schlechter abschneiden als der Klassenkamerad. Es ist schlimm, aber viele Eltern verlangen die Hausaufgaben."

Die Konkurrenz ist groß, wenn man einer von 1,3 Milliarden ist. Und das Ziel ist schon vom Kindergarten an klar: der Gaokao, die Hochschulaufnahmeprüfung. Auf diesen einen Tag lernen sie ihr junges Leben lang hin. "Wenn du jetzt nicht zu den 100 Besten gehörst, dann kommst du nie in ein gutes Gymnasium", redet in der TV-Serie die Mutter ihrer Tochter Duoduo ins Gewissen. "Und wenn du in kein gutes Gymnasium kommst, dann kommst du nie in eine gute Uni. Und wenn du nicht in eine gute Uni kommst, dann ist dein ganzes Leben kaputt." Die Regierung nahm schon ein paar gut gemeinte Anläufe: 2013 erließ das Erziehungsministerium ein Verbot für Hausaufgaben in den Ferien. "Aber keiner hält sich dran", sagt Vater Ma. "Das ganze System ist verkorkst. Es gibt zu viele Widerstände."

Seine Tochter Anli, wie gesagt, gehört zu den Glücklichen. Mehr als zwei Stunden brauchte sie in den letzten Wochen selten für ihre Aufgaben. Auch besucht sie keinen der Nachhilfekurse, die die Lehrer ihrer Klasse anbieten - schon weil die Eltern das Geld nicht haben. 200 Yuan pro Stunde, umgerechnet 30 Euro. Anli liest, ab und zu zeichnet sie. "Aber ich bin müde, immerzu müde", sagt sie. "Manchmal träume ich von Ferien ohne Hausaufgaben. Aber für uns gibt es kein Entkommen." Die drei Fernsehfamilien in "Kleiner Abschied" helfen ihren Kindern bei der Flucht: Sie alle schicken sie schließlich auf Schulen ins Ausland.

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Quelle:
SZ vom 31.08.2016
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