Chile vor der Rettungsaktion:Im Duell mit der Schwerkraft

Vom Sauerstofftank bis zur Sonnenbrille: Wie die 33 Grubenarbeiter in Chile auf ihre Reise vom Schattenreich ins globale Rampenlicht vorbereitet wurden.

Peter Burghardt, San José

Der Käfig der Freiheit ist eine schmale Röhre aus feinem Stahl, er sieht aus wie eine kleine Rakete. Die Retter nennen diesen Fahrstuhl Fénix, Phönix, und haben ihn in Chiles Nationalfarben gestrichen, Rot-Weiß-Blau. Für das schmale Land zwischen Anden und Pazifik hat diese Rettung der 33 Bergarbeiter aus der Mine San José mittlerweile eine Bedeutung wie für die USA einst die Mondfahrt - sie ist eine patriotische Mission von globalem Rang.

Rettungsaktion für eingeschlossene Bergleute

Rettungsaktion für eingeschlossene Bergleute: Arbeiter hissen eine Flagge nahe der Unglücksstelle unter der 33 Minenarbeiter eingeschlossen sind.

(Foto: dpa)

Präsident Sebastián Piñera steht während der Bergung am Bohrloch, seine Minister für Bergbau und Gesundheit sind seit Wochen präsent, die Welt schaut zu. In der Nacht zum Mittwoch sollte die Bergung beginnen, sie wird wohl bis Donnerstag dauern. Sie heißt "Operation San Lorenzo", nach dem Schutzheiligen der chilenischen Bergleute.

Die Kapsel Fénix stand in drei Versionen bereit, konstruiert auf einer Werft der Marine in der südlichen Erdbebenstadt Talcahuano. Es berieten die Weltraumbehörde Nasa und weitere internationale Spezialisten. Fénix 1 ist 3,95 Meter hoch, 51 Zentimeter Durchmesser breit und 400 Kilo schwer, die Probefahrten funktionierten tadellos. Das Gefährt wird an einer Seilwinde von einem österreichischen Motor mit 240 PS durch den Notschacht gelassen, den die mittlerweile legendäre Maschine Schramm T-130 in 33 Tagen bis in 624 Meter Tiefe trieb.

Drunten liegt sozusagen das Parterre der Havaristen. Seit dem Einsturz mehrerer Stollen am 5. August hatten sie in Schutzräumen fast 700 Meter unter der Atacama-Wüste ausgehalten, zuletzt versorgt durch ein schmales Rohr. Es wird, sagt der Minenexperte Mario Durán, "wie eine Aufzugfahrt vom Erdgeschoss in den 330. Stock". Es ist, wenn alles gut geht, eine Himmelfahrt, eine mehrfache Wiedergeburt vor Hunderten Millionen Zuschauern.

Die Planung am Dienstag sah vor, zunächst vier Experten und Sanitäter in die Unterwelt zu schicken, um die Rückkehr ans Licht vorzubereiten. Dann sollen nach einem wochenlang einstudierten Ablauf die eingeschlossenen Arbeiter folgen, und zwar in ausgetüftelter Reihenfolge nach Kraft, Alter, Erfahrung und gesundheitlichem Zustand; 32 Chilenen, ein Bolivianer. Ungefähr 15 Minuten soll eine Reise dauern, inklusive leerer Abfahrt und Einstieg 45 Minuten pro Person. Zur Avantgarde könnten Mario Sepúlveda gehören, der Entertainer der Gruppe aus der Finsternis, und Carlos Mamani aus Bolivien. Auf Mamani soll an der Oberfläche der bolivianische Staatschef Evo Morales warten.

Alle Evakuierten müssen die Flucht aus ihrem Verlies im Stehen bewältigen, mit Gurten und Haltegriffen. Sie wurden dafür nach Diätplan versorgt und übten wie Kampfpiloten im Duell mit der Schwerkraft. Acht Stunden vor dem Start wurde Fasten verordnet, davor gab es energiereiche Sondernahrung wie für Astronauten.

Die 33 sind ausgestattet mit Helm, Kopfhörer, Mikrofon und Sauerstoff aus vier Tanks; Pulsschlag und Blutdruck werden ständig überprüft. Sie tragen grüne Overalls nach Maß mit Druckgürtel, damit nicht alles Blut in die Füße sackt. Ärzte und Psychologen leisten über Funk Beistand. Zu den Gefahren gehören Steinschlag, Kreislaufkollaps, Panikattacken. Allerdings ist das Gestein in dem Schacht offenbar fest, und die Passagiere sind bei guter Gesundheit. Sonnenbrillen blocken die UV-Strahlung und schützen die entwöhnten Augen. Denn droben wird es schrill und grell.

Als Volkshelden und Medienstars werden sie in die kalte Nacht oder den heißen Tag gehoben, falls alles glatt geht. Daneben sind Tribünen und Zelte für Politiker, Techniker, Helfer und Heerscharen von Journalisten aufgebaut. Wenn sie oben sind, kümmern sich zunächst Mediziner und andere Spezialisten um die Bergleute. Dann ist Zeit für die Familie.

Die Geretteten sollen anschließend in einem Feldlazarett untersucht und mit Hubschraubern der Luftwaffe zum Infanterie-Regiment Nummer 23 in die Provinzhauptstadt Copiapó geflogen werden, 50 Kilometer entfernt. Im Regionalhospital San José del Carmen sind zweitägige Checks vorgesehen. Es sollen, bei günstigem Ausgang des Dramas, Feiern und Ehrungen für die neuen Helden folgen.

Das Lager La Esperanza mit seinen Zelten, Studios, Containern, Clowns, Flaggen, Altären, Polizisten, Reportern und seiner Schule neben der Mine in den kahlen Bergen wird dann schnell verlassen werden. Zweieinhalb Monate lang hatten dort Ingenieure nach den Verschütteten gebohrt, begleitet von einer gewaltigen Presseschar mit 1500 Journalisten in einem Urwald von Kameras, Satellitenschüsseln und Mikrofonen in der Einöde. Jetzt wird die Reality Show in das Nest Copiapó verlegt, falls kein Unglück geschieht.

Der Therapeut Alberto Iturra berät schon jetzt die Aufsteiger, wie sie am besten mit Reportern umgehen sollen. Und wie sie ihren Familien und den Reportern begegnen sollen. Er lieh sich auch Erfahrungen von Missionen im All und vergleicht das Wiedersehen mit dem Käse in der Mausefalle. "Genießt den Käse", sagt Iturra.

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