Chatrooms:Eine Liebe für 1,99 Euro pro Minute

Der 49-jährige Michael Renz ist süchtig nach Online-Sex, gibt dafür Unmengen Geld aus - und träumt von einer romantischen Beziehung mit der Frau aus dem Chatroom.

Steffen Kraft

Das Leben des Dr. jur. Michael Renz (Name geändert) hätte eine andere Wendung genommen, wenn er sich am Abend des 16. April 2005 keinen Big Mac geholt hätte - so denkt er manchmal. Dann hätten er und Anja (Name geändert) sich kurz nach 22 Uhr von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, sich zum ersten Mal mit einem echten Kuss begrüßt und nicht mit einem in die Tastatur getippten.

Prostutuierte, ddp

Anja liebt ihn. Dessen ist sich Michael sicher.

(Foto: Foto: ddp)

Er, der 49 Jahre alte Mann mit den locker gescheitelten, ein wenig angegrauten Haaren und sie, die 28 Jahre alte Blondine, deren Mähne fast bis zum durchtrainierten Po reicht. Was für eine Vorstellung: Die beiden wären zu ihr gefahren, um all das miteinander zu machen, was sie zuvor im Chatraum besprochen hatten.

Am nächsten Morgen hätten sie bei Kaffee und frischen Brötchen über ihre gemeinsame Zukunft gesprochen; dass Anja ihre Stelle als Rechtsanwaltsgehilfin kündigen könnte, um sich in Österreich, seiner Heimat, ein Job zu suchen. Oder um schwanger zu werden.

Vielleicht wäre Anja die Mutter seiner Kinder geworden. Das wolle sie gern, hatte sie im Chat oft gesagt. Michael Renz' Mutter wäre wahrscheinlich zunächst skeptisch gewesen, hätte die Anja aus dem Internet aber schließlich doch akzeptiert.

Und Michael Renz hätte seinen Freunden bewiesen, dass er Recht hatte. Dass er nicht süchtig ist nach Online-Sex, wie sie behaupten. Dass seine Beziehung zu Anja doch etwas Ernstes ist, nicht bloß ein Sex-Chat, für den er 1,99 Euro pro Minute zahlt. Manchmal vier Stunden am Tag.

Der sechste Versuch

Hätte Michael Renz in dieser Nacht nicht kurz den Parkplatz verlassen, auf dem er Anja treffen sollte, wäre er heute vielleicht glücklich.

Doch Michael Renz hatte Hunger. Schließlich war er die ganze Strecke von Österreich ins Ruhrgebiet gefahren, um von 20 Uhr an auf dem Parkplatz des "Gartencenter Augsburg" in Schwerte zu warten. Anja hatte ihm erzählt, dass sie an diesem Abend auf einer Geburtstagsfeier sei und sich von dort erst loseisen müsse. Er solle einfach eine SMS schicken, wenn er da sei.

Auf der Fahrt nach Schwerte isst Michael vor Aufregung kaum etwas. Als er um 20.18 Uhr seine Ankunft per SMS meldet, traut er sich zunächst nicht vom Fleck. Diesmal soll das Treffen endlich klappen. Schließlich ist es der sechste Versuch.

Immer wieder Absagen

Die Gründe, die Anja für ihre Absagen gibt, haben sich dem leicht untersetzten Mann eingebrannt: "Einmal hatte sie sich verkühlt, ein anderes Mal waren es die Masern, dann musste die Oma ins Krankenhaus, dann war das Patenkind krank, dann der Hund."

Über die Reihenfolge ist sich Renz nicht mehr ganz sicher. Schließlich habe er nach dem missglückten Treffen in Schwerte noch mindestens zehn weitere Male versucht, sich über den Video-Chat mit Anja zu verabreden. Vergeblich.

Dennoch, Anja liebt ihn. Dessen ist sich Michael sicher. Und deshalb glaubt er Anja auch, als sie am Morgen nach der Nacht auf dem Schwerter Parkplatz sagt, sie sei um 22 Uhr am Gartencenter gewesen. Und so von ihm enttäuscht, dass er nicht dort gewesen sei. Nein, die SMS seiner Ankunft habe sie nicht bekommen.

Michael Renz' Freunde sagen, Anjas Ausreden klängen wie Tricks einer professionellen Chatterin: ein Treffen in Aussicht stellen, kurz vorher wegen Krankheit, einem plötzlich verschobenen Schichtdienst oder einer Reifenpanne absagen. Oder einfach nicht erscheinen. Den Geschäftsbeziehungen schadet das selten, denn bei vielen Kunden ist es für die Chatterinnen ein Leichtes, die Schuld auf die enttäuschten Männer abzuschieben.

Michael Renz besitzt zwei Handys, ein silbernes und ein schwarzes. Mit dem silbernen telefoniert er mit seinen Freunden. Von dem schwarzen Telefon kennt nur Anja die Nummer. Es ist das kleine Geheimnis der beiden. Wenn der Steuerbeamte Michael Renz in der Arbeit ist, schickt er ihr damit SMS.

Anjas richtige Nummer kennt Michael allerdings nicht. Daher sendet er seine Nachrichten über einen Mehrwertdienst. Kosten pro SMS: knapp zwei Euro pro Stück. Meistens antwortet sie prompt. Und manchmal schreibt sie einfach so, dass sie ihn vermisst.

Michael mag, dass er auf diese Weise immer sehen kann, wann Anja an ihn denkt. Praktisch ist an den zwei Handys aber auch, dass seine Freunde nicht mehr bemerken, wenn die Telefongesellschaft die Leitung kappt, weil Michael Renz wieder einmal die Rechnung nicht bezahlen kann.

Der Mittelpunkt von Michaels Beziehung zu Anja ist allerdings der Video-Chat auf einer Sex-Internetseite. Dort ziehen sich Frauen für Geld vor der Webcam aus. Hat ein Kunde selbst eine Kamera an den Computer angeschlossen, kann auch er sich den Frauen zeigen.

Anjas Neigungen lauten ausweislich eines ihrer zahlreichen Internet-Profile: "Oral-Sex, Anal-Sex, Rollenspiele, Gruppen-Sex, Swinger." Er bekomme von seiner Anja aber viel mehr als Sex, sagt Michael Renz, nämlich "Ansprache, wahres Interesse und eine Perspektive". Damit meint er die Aussicht auf Kinder.

Eine Rechnung über 75.000 Euro

Wenn Michael einen Abend mal nicht in den Chat kommen kann, entschuldigt er sich per E-Mail. Manchmal wird Anja dann wütend. Daraufhin beteuert er, dass sie ihm nicht peinlich sei, dass er sie noch liebe und dass er wirklich ehrlich zu ihr sei.

Beim nächsten Mal im Chat sprechen sie noch einmal darüber. Und das hat seinen Preis. Kürzlich lag eine Rechnung über 75.000 Euro in seinem Briefkasten. Doch er nimmt lieber Schulden auf, als den Kontakt abzubrechen.

Die Banken gewähren die Kredite bisher noch gerne, immerhin ist der promovierte Jurist Beamter mit einem festen Einkommen. Wie hoch sein Schuldenberg bisher gewachsen ist, weiß keiner seiner Freunde. Und er selbst vielleicht auch nicht. Darauf angesprochen sagt er ganz schnell: "Bis jetzt kann ich das noch bezahlen." Michael liebt Anja. Da darf Geld keine Rolle spielen.

Es ist einfach, Michael Renz als Spinner abzustempeln. Oder als Freier, der will, dass die Hure ihre Arbeit aus Liebe tut und ihr dafür immer teurere Geschenke macht.

Kurt Seikowski sieht es anders. Seikowski ist der Vorsitzende der Gesellschaft für Sexualwissenschaft. Er sagt, dass Menschen wie Michael Renz ebenso krank sind wie Junkies: "Online-Sexsüchtige zeigen die gleichen Symptome wie andere Süchtige: Sie können das Ende ihres Konsums nicht mehr kontrollieren, steigern die Dosis, verheimlichen ihr Tun und vernachlässigen Freunde und andere Interessen."

In den vergangenen fünf Jahren hat sich die Zahl dieser Patienten in Seikowskis Praxis verzehnfacht. Gleichzeitig explodierten die erotischen Angebote im Internet.

21 Millionen Sex-Seiten

Im Oktober 2001 noch fand Seikowski 400.000 deutschsprachige Seiten, wenn er den Begriff "Sex" in die Internet-Suchmaschine Google eingab. Inzwischen sind es mehr als 21 Millionen.

Wenn ein Patient freiwillig in die Sprechstunde eines erfahrenen Psychologen komme, seien die Heilungschancen hoch, sagt Seikowski. In Therapiegesprächen fragt er meist zuerst nach Frust-Erfahrungen, spürt ungestillten Bedürfnissen nach. Oft helfe es dabei zu untersuchen, wann der Süchtige zum ersten Mal im Netz nach Sex gesucht habe.

Die Beziehung von Michael und Anja hat im Dezember 2004 begonnen. Michael trifft sie auf der Internetseite eher zufällig. Ihm gefällt das Bild, das sie von sich ins Netz gestellt hat. Sie wirkt natürlich, nicht so aufreizend wie ihre Kolleginnen "SexTraum" oder "Spermaluder".

Das Gespräch im Video-Chat ist freundlich, aber zurückhaltend. Anja sagt, sie ziehe sich nur für Leute aus, die sie kenne. Michael gefällt das. Sie verabreden sich für ein weiteres Treffen im Video-Chat. Beim dritten Mal sagt sie: "Ich spüre Schmetterlinge im Bauch, wenn ich mit dir rede."

Bei seinem fünften Besuch spricht sie schließlich davon, dass sie Kinder von ihm wolle. Und ein Haus. Und eine Familie gründen. Das ist der Moment in dem Michaels "Hirn Hula-Hoop hüpft", wie er es nennt. Anja hat eine Seite angeschlagen, die seitdem nicht aufhört zu schwingen.

"Mach' es für uns..."

Eine, die diese Schwingungen nicht ausgehalten hat, ist Katrin Hertel (Name geändert), Michael Renz' Ex-Freundin. Als die schwarzhaarige Frau im Dezember 2004 erfährt, dass ihr Freund lieber mit einer Jahrzehnte jüngeren Blondine chattet als sie zu treffen, beginnt sie um ihn zu kämpfen.

Sie redet auf ihn ein, versucht ihn zu überzeugen, dass Anja eine Betrügerin sei, es nie zu einem Treffen kommen wird. Die 56 Jahre alte Sekretärin beauftragt Detekteien, schaltet die Polizei ein, recherchiert in Internet-Foren über das Sex-Geschäft im Internet.

Hier erfährt sie: Gegen die Abzocke mit Erotik-SMS, kostenpflichtigen Chats und teuren 0900-Nummern lässt sich kaum etwas unternehmen.

Am 18. April 2005, zwei Tage nach Michaels Nacht in Schwerte, bekommt Katrin Hertel eine E-Mail von der Polizei Dortmund: "Die Daten der ,Anja' konnten hier ermittelt werden." Für eine Anzeige müsse allerdings der Geschädigte der Strafverfolgung zustimmen. Der heißt Michael Renz - und denkt gar nicht daran, Anja zu verpfeifen.

Für Sexualwissenschaftler Kurt Seikowski ist das keine Überraschung: "Meist ist Online-Sex ja ein Ersatz für Defizite in der echten Partnerschaft. Wenn ich ohnehin schon Probleme habe, warum sollte ich dann meine letzten Rückzugspunkt aufgeben." Statt zu versuchen, die Süchtigen von Betrugsabsichten der Chatterinnen zu überzeugen, sollten die Angehörigen lieber zunächst signalisieren, dass sie die Süchtigen nicht für pervers halten.

"Wenn meine Freundin mir dann die Adresse eines Therapeuten hinlegt und sagt: 'Mach es bitte für unsere Beziehung' ist die Chance höher." Wenn das allerdings nicht funktioniere, bleibe nur eines: die Trennung.

Der Chat ist wichtiger

Am 6. Januar 2006 kann Katrin Hertel nicht mehr. Sie fragt Michael, was ihm wichtiger sei: der Chat oder sie. In ihrer Erinnerung überlegt Michael eine Weile und sagt dann leise: "der Chat".

Seitdem haben Michael und Katrin kaum mehr miteinander gesprochen. Von ihrer Liebe ist nichts übrig, inzwischen fühlt Katrin nur noch Mitleid. Michael Renz chattet unterdessen weiter mit Anja. Doch ganz kalt hat auch ihn die Trennung nicht gelassen.

Sein Weltbild, so scheint es, hat feine Risse bekommen. Seit einigen Wochen verbirgt er sogar vor Anja ein Geheimnis: Er hat sich in die Kartei einer Online-Heiratsbörse eingetragen. Vielleicht, so hofft er, nimmt sein Leben doch noch einmal eine andere Wendung.

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