Chapecoense-Unglück:"Wer hat gewonnen?"

Der brasilianische Fußballer Hélio Neto hat den Flugzeugabsturz auf dem Weg zum Finale des Südamerika-Cups überlebt. Nun ist er in seine Heimat zurückgekehrt.

Von Moritz Geier, Chapecó/München

Vielleicht lebt Hélio Neto noch, weil er sich nicht erinnern kann. Nicht an den Flug. Nicht an den Absturz. Nicht an seine Rettung. "Wer hat das Finale gewonnen?", soll Neto die Ärzte gefragt haben, als er vor einigen Tagen aus dem Koma aufgewacht ist, aber die Ärzte haben die Wahrheit verschwiegen. Die Wahrheit nämlich, so fürchteten sie, würde er in seinem Zustand nicht verkraften. Also haben sie ihm nicht gesagt, dass das Fußball-Endspiel der Copa Sudamericana nie gespielt wurde. Dass das Flugzeug abgestürzt ist, welches die Mannschaft Chapecoense von Brasilien nach Kolumbien bringen sollte, zum Finale in Medellín. Dass es nicht genug Treibstoff getankt hatte und dass deshalb fast alle seine Teamkollegen tot sind. Dass insgesamt 71 Menschen gestorben sind und nur sechs überlebt haben.

Hélio Neto, 31, brasilianischer Verteidiger des Klubs, ist einer von diesen sechs Überlebenden. Es wurde zuletzt viel geschrieben über ihren Zustand, mal hieß es, es gehe ihnen besser, mal, sie kämpften um ihr Leben. Und nun gibt es also endlich ein paar gute Nachrichten in dieser Unglücksgeschichte. Hélio Neto ist diese Woche in seine Heimat zurückgekehrt, als letzter der Überlebenden. Er hatte nicht nur ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten und zahlreiche teils offene Knochenbrüche, sondern kämpfte auch noch mit einer schweren Lungenentzündung. Neun Tage lag er im Koma. Die Wahrheit hat er mittlerweile erfahren. "Es gab irgendwann keine andere Möglichkeit, nachdem Neto merkte, dass seine Verletzungen nicht vom Fußball stammen", sagte der Arzt Carlos Mendonça dem Sender Sport TV. Neto habe sehr emotional reagiert. Sein körperlicher Zustand aber habe sich mittlerweile verbessert, die Genesung verlaufe "beeindruckend", wie einer der Ärzte dem kolumbianischen Radiosender Caracol sagte.

In der Nacht vor dem Abflug hatte der Abwehrspieler einen bösen Traum

Von Netos Teamkollegen haben nur zwei überlebt, Ersatztorwart Jakson Follmann und Abwehrspieler Alan Ruschel. Follmann, 24, mussten die Ärzte das rechte Bein unterhalb des Knies amputieren. In São Paulo wird er nun auch noch an der Wirbelsäule operiert. Vor ein paar Tagen hieß es noch, auch sein linkes Bein sei in einem kritischen Zustand, Muskeln und Gefäße seien ernsthaft verletzt, wie die Sportseite Globo Esporte berichtete. Immerhin: Sein Zustand sei stabil. Bei Alan Ruschel, 27, gab es wegen zahlreicher Knochenbrüche und einer Wirbelverletzung kurzzeitig Gerüchte um eine Querschnittslähmung. Nach einer Rückenoperation aber scheint er auf dem Weg der Besserung zu sein. Es gibt im Internet ein Video, das seine ersten Schritte im Hospital dokumentiert. Ein kahl geschorener Mann im Krankenhaushemd hinkt darin durch einen Raum, gestützt von einem Arzt. Er sieht mitgenommen aus, aber er hebt den Daumen, setzt sich langsam auf einen Stuhl und spricht eine Dankesbotschaft an die Fans. "Ich möchte euch sagen, dass ich mich schnell erhole", sagt er.

Von den übrigen drei Überlebenden hatten vor allem die zwei Bolivianer, Flugbegleiterin Ximena Suárez und der Mechaniker Erwin Tumiri, Glück. Tumiris Fall kommt einem Wunder gleich, Rettungskräfte bargen ihn nahezu unversehrt. Dem Sender Caracol sagte er in einem Interview, er habe sich beim Absturz einfach an die Sicherheitshinweise gehalten. "Ich habe mich hingesetzt und einen Koffer zwischen meine Beine platziert. Dann habe ich mich in die Haltung eines Embryos begeben." Suárez brach sich nur einen Fußknöchel. Der Journalist Rafael Henzel, 43, erlitt sieben Rippenbrüche, sein Zustand war kritisch, weil auch seine Lunge verletzt wurde. Einem TV-Sender sagte Henzel, dass er im Regen zwischen zwei Bäumen hing, als das Rettungsteam ihn fand. Auffällig: Alle drei haben im Flugzeug nah beieinander gesessen, Tumiri und Suárez eine Sitzreihe hinter Henzel.

Über seinen Patienten Neto hat Mendonça, der Arzt, übrigens eine unheimliche Anekdote erzählt. Neto habe ihm gesagt, dass er in der Nacht vor der Flugreise geträumt habe, das Flugzeug werde abstürzen. Zu seiner Frau habe er gesagt: "Ich will nicht fliegen."

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