Casting für Straßenmusikanten:Lizenz zum Flöten

Ob mongolische Hackbrettspieler oder rumänische Teufelsgeiger: Wer sich in einer deutschen Fußgängerzone als Straßenmusiker verdingen will, kommt an Bürokratie nicht vorbei. Für eine Lizenz müssen die Musiker vielerorts erst ein Casting bestehen. In München entscheidet der Beamte Albert Dietrich über die Frage: Kunst oder Krach?

Laura Hertreiter

Die Straßenmusikerszene Münchens passt in einen Holzkasten voller Karteikarten, jede mit Kugelschreiber beschrieben. Wer in der Fußgängerzone spielen will, muss es auf eine Karteikarte schaffen. Wer auf eine Karteikarte will, muss bei Albert Dietrich im Rathaus vorspielen. Der Beamte steht hinter einem Tresen im Rathaus der bayerischen Landeshauptstadt und zieht seine Cordhose hoch. Es ist früh am Morgen. "Schonmal hier gewesen?", fragt er zwei zierliche Russinnen mit Geigenkoffern. Kopfschütteln."Dann lasst mal was hören."

Musiker im Ostbahnhof Zwischengeschoß, 2011

Wer wie dieser Mann vor Passanten in München musizieren will, braucht eine Genehmigung. Dafür muss er Talent beweisen - und eine Gebühr von zehn Euro bezahlen.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Der 62-Jährige verschränkt die Arme. Die beiden Frauen packen vorsichtig ihre Violinen aus und spielen schließlich eine hauchzarte Version von The Verves "Bittersweet Sinfonie". Dietrichs Mundwinkel rutschen nach unten. Er legt die Stirn unter dem grauen Haar in Falten, seufzt und hebt die Hand. Sein Urteil: "So kann man im Wohnzimmer spielen, aber nicht auf der Straße." Die Musikerinnen blicken auf ihre Riemchensandalen. Schultern, Violinen und Bögen hängen in Richtung Boden. "Ihr braucht mehr Pepp", sagt Dietrich. "Übt weiter und kommt dann wieder."

Albert Dietrich ist Münchens Spielplanmacher der Straßenmusik. Er entscheidet, wer in der Fußgängerzone musizieren darf. Und er verbindet damit zwei Dinge, die in seinen Augen eigentlich nicht zusammenpassen: Kunst und Behörde. Dietrich selbst ist klassikbegeistert. In seiner Freizeit arbeitet der Beamte deshalb als Beleuchter bei der Oper. Und wenn Backpacker mit durchgetretenen Turnschuhen und Mundharmonika vor ihm im Rathaus stehen, erinnert er sich an seine einstigen Pläne, die irgendwo zwischen Akten und Terminen zu Träumen schrumpften. Er wäre selbst gern gereist. Raus aus dem Amt, rein ins Abenteuer, frei und ungebunden.

Stattdessen steht er nun hinter dem Tresen und holt die Freien und Ungebundenen gewissenhaft auf den Boden der bayerischen Bürokratie zurück. Mongolische Hackbrettspieler, rumänische Teufelsgeiger, Pianisten am weißen Flügel. Wer früh genug bei ihm Schlange steht, musikalisches Talent und eine Gebühr von zehn Euro mitbringt, bekommt eine der fünf Lizenzen für den Vormittag oder - weit lukrativer - eine der fünf für den Nachmittag. Wer indes ohne Genehmigung spielt, kann bis zu 1000 Euro Strafe kassieren. Und München ist keine Ausnahme. Weil Massen von Musikanten die deutschen Fußgängerzonen beschallen, war die Zahl der Beschwerden massiv gestiegen. Seither überlegen die Städte, wie sie der Lage Herr werden. Und die Regularien nehmen zu.

"Freiheit der Kunst missachtet"

Die Musiker sind davon wenig begeistert. Für Gitarrist Thomas Mauerberger vom "Forum Straßenmusik" etwa sind Castings ein hilfloser Versuch: "Gerade die Musiker, die unerwünscht sind, halten sich eh nicht an die Regeln", sagt er. Das Forum bemüht sich, online die vielen unterschiedlichen Vorschriften zu erfassen, die heute in den einzelnen Städten gelten. Die Lage sei inzwischen recht unübersichtlich geworden. Wichtigster Kritikpunkt: Mauerberger und sein Kollege Dieter Pohl fühlen sich zensiert. "Mit diesen Castings wird die Freiheit der Kunst missachtet."

Doch Instrument auspacken, Hut aufstellen, losmusizieren: Das war einmal. Der weltenbummelnde Lebenskünstler ist vor allem in Ländern nicht mehr willkommen, in denen das Geld lockerer sitzt: Je mehr Touristen, desto strenger die Auflagen. So beginnt der Straßenkünstlertag in vielen Metropolen mit dem Ämtergang: Lizenzen, Gebühren, Regeln. Einerseits, weil die Städte bettelnde Vagabunden loswerden wollen, die mangelnde Musikalität mit Lautstärke wettmachen. Zum anderen, weil sie in virtuosen Musikern längst eine Touristenattraktion erkannt haben.

Mindestabstand zu Imbissbuden und Kirchen

So sind die oftmals mitreißenden Klänge in den U-Bahn-Stationen von London und Paris das Ergebnis eines strengen Auswahlverfahrens. Wer hier auftreten will, muss sich vorher beim Probekonzert der Stadtverwaltung bewähren. Wer gut ist, darf auf die Straße. Wer noch besser ist, auf die Bühne: Von den großen Musikfestivals wie dem englischen "Busk off" oder dem französischen "Fête de la Musique" dürfen sich die Teilnehmer Ruhm, Plattenverkäufe und Engagements erhoffen. London zelebriert seine Musikerszene außerdem mit einem Wettbewerb, bei dem jährlich der Superstar unter den Straßenmusikern gekürt wird. Die Vorauswahl fällt bei einer Online-Abstimmung, dann entscheidet eine Jury aus Musikexperten.

In Deutschland ist Musikalität indes noch selten ein Kriterium. Castings wie in München gibt es kaum, auch wenn sie immer wieder diskutiert werden. So zum Beispiel in Wiesbaden: Man habe über die Methode nachgedacht, sagt eine Sprecherin des Ordnungsamts. Doch nur sehr kurz. Denn "dafür fehlt es uns an Zeit, Personal und musikalischer Expertise." Stattdessen verlangt man hier, wie in den meisten Großstädten, eine Gebühr, verteilt limitierte Lizenzen und stellt strikte Regeln auf.

Die wichtigste: Damit niemand den ganzen Tag mit derselben Melodie in Endlosschleife bedudelt wird, müssen Musiker den Platz regelmäßig wechseln. Alle 20 Minuten in Göttingen, alle 30 in Hamburg, jede Stunde in München. In Berlin, wo es kaum eine Straßenecke ohne "Guantanamera" gibt, behält sich das Ordnungsamt vor, Musikanten sogar alle 15 Minuten weiterzuschicken. Gängige Praxis sei das aber nicht, sagt Bezirksstadtrat Marc Schulte. Zudem ist ein Mindestabstand zu Imbissbuden vorgeschrieben.

Gitarre unterm Arm, Formulare in der Tasche

Und was in der deutschen Hauptstadt die Dönerbude ist, ist in der österreichischen die Kirche: "25 Meter Respektabstand" zu Gotteshäusern und Beerdigungen müssen Künstler in Wien einhalten. In Salzburg gibt eine Verordnung auf den Quadratmeter genau vor, wo gespielt werden darf. Und der Stadtrat in Brüssel beschloss 2008, dass Musiker für eine Lizenz zum Spielen eine amtliche Prüfung ablegen müssen - eine Art Straßenmusikerdiplom. New York erlaubt jedem, unter freiem Himmel zu musizieren. Doch sind die besten Plätze in der U-Bahn seit fast 30 Jahren den 350 Teilnehmern eines Förderprogramms vorbehalten. Und in Singapur ist öffentliches Musizieren erst seit 1994 wieder erlaubt - allerdings nicht für Ausländer.

Der Trend unter Straßenmusikern geht also zum musizierenden Tourmanager: Gitarre unterm Arm, Formulare in der Tasche, Vorspieltermine und Regularien im Kopf. Für abenteuerlustige und spontan aufspielende Weltenbummler, wie Albert Dietrich selbst gern einer gewesen wäre, wird es schwierig. Einer von ihnen hat sich jetzt direkt vor dem Münchner Rathaus postiert. Ein Kalifornier mit blondem Bart, riesigem Rucksack und Gitarre. Mädchen in bunten Shorts lassen Münzen in die Tasche vor ihm klimpern, ein junger Vater schaukelt den Kinderwagen im Takt.

Albert Dietrich ist auf dem Weg in die Mittagspause. Einen Moment lang bleibt er stehen. Lauscht und lächelt. Dann aber wandert sein Blick auf den Boden - wo kein Lizenzformular liegt. Es wird jetzt eine Verwarnung geben. Der Beamte legt die Stirn in Falten und stapft auf den Mann zu. Der singt den Oasis-Song "Whatever" - ein Lied über die Freiheit, zu tun und zu lassen was man will.

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