Süddeutsche Zeitung

Bundesverfassungsgericht:Der Zottelvater und die Mörderbrut

Seit 50 Jahren glaubt Inge Lohmann, ihren Erzeuger zu kennen. Der Mann will von ihr nichts wissen. Nun entscheidet das Bundesverfassungsgericht, ob er zum DNA-Test gezwungen werden kann.

Von Wolfgang Janisch

Sieht man einem Menschen an, was er erlebt hat? Schreibt sich das Leben ins Gesicht ein? Namenloses Unglück, Missbrauch, Brutalität - kann das ohne Spuren bleiben in einem Gesicht, das jetzt 65 Jahre alt ist?

Sie nahm Kinder auf, denen es schlecht ging. Wie ihr selbst

Inge Lohmann sieht jünger aus. In ihrem Gesicht findet man freundliche Falten um die Augen und ein warmes Strahlen, wenn sie von ihrem ältesten Enkel spricht, der bald sechs Jahre alt wird. Er ist oft übers Wochenende da, sie hat ihm das Schwimmen beigebracht und das Radfahren. Überhaupt: Kinder. Drei eigene Kinder hat sie großgezogen, dazu eine adoptierte Tochter. Und mehr als 30 Pflegekinder kamen über die Jahre hinzu. "Ich habe immer Kinder genommen, denen es auch scheiße ging. So wie mir damals."

Inge Lohmann lebt mit ihrem Lebensgefährten in einem Häuschen nahe Coesfeld, auf dem Weg zu ihr kommt man an ein paar Pferdekoppeln vorbei. Sie führt ein zufriedenes Leben, endlich, aber jetzt muss sie etwas klären. Sie will, schwarz auf weiß, festgestellt haben, dass der Mann ihr Vater ist, den sie seit ihrem 14. Lebensjahr dafür hält. Die Mutter hatte ihr das offenbart, sie hatte eine kurze Beziehung mit ihm. 1964 hat sie ihn zum ersten Mal getroffen, im Café Bauer in Oberhausen. Lange Haare trug er damals, Stiefel und eine Zotteljacke. Der Zottelvater sei ihr damals ein bisschen peinlich gewesen, erinnert sich Inge Lohmann.

Als ihr Stiefvater die Mutter würgte, erstach ihn Inges Bruder

Mit diesem Mann, heute ist er 88, ist sie nun in einen Rechtsstreit verstrickt, über den an diesem Dienstag das Bundesverfassungsgericht verhandeln wird. Lohmann will einen DNA-Test durchsetzen, der ihr endlich Gewissheit gibt.

Sechs Jahre schwelt der Rechtsstreit bereits, doch der Mann, sagt sie, streite alles ab und nenne sie eine wildfremde Person. Nie und nimmer werde er in einen Test einwilligen, habe er über seinen Anwalt ausrichten lassen. Doch Inge Lohmann möchte einen Beleg dafür in Händen halten, dass er eine Mitschuld an ihrer furchtbaren Kindheit hat - weil er nicht da war. Weil eine Lücke klaffte, wo ihr Vater hätte sein müssen, und weil ein anderer Mann sich in diese Lücke drängte, ein vorbestrafter Gewalttäter, der ihrer Mutter werbend einfühlsame Briefe aus dem Gefängnis geschrieben hatte, bis sie ihn heiratete. Und der, als Ehemann und Stiefvater, zum brutalen Tyrannen wurde. Er prügelte die Mutter, missbrauchte die Tochter.

Inge Lohmann zeigt ein weiteres Foto. Man sieht ein Kind mit angstvollen Augen, drei Jahre alt, daneben steht der ältere Bruder. Er steht da wie ein Beschützer, der verantwortlich ist für das kleine, zarte Mädchen. Sie lebten in der Wunderstraße - welch bizarre Einfälle das Schicksal manchmal hat.

An einem Donnerstagabend, es war der 8. Februar 1962, eskalierte Streit in der Wunderstraße. Inge Lohmann erzählt das ganz ruhig, das Entsetzen von damals muss tief in ihrem Gemüt eingekapselt sein. Der Stiefvater, betrunken wie meistens, würgte die Mutter bis zur Ohnmacht. Das Mädchen rief den Bruder: "Helmut, komm schnell, der Papa macht die Mama tot." Sie nannte den Tyrannen wirklich Papa, daran erinnert sie sich ganz genau. Der andere war ja nie da.

Was dann geschah, ist zwei Tage später in der Lokalzeitung nachzulesen. "Der Stiefsohn wollte seiner Mutter zu Hilfe kommen. Er griff nach einem Schlachtermesser, stach mehrmals auf seinen Stiefvater ein und verletzte ihn so schwer, dass dieser bald darauf starb."

"Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung"

Der Bruder brachte den Tyrannen um. Rettete die Mutter, schützte die Schwester. Es gab ein Ermittlungsverfahren, aber es wurde eingestellt, erinnert sich Inge Lohmann. Nothilfe nennt man das. Sie sagt: "Hätte der das nicht gemacht, hätte ich das irgendwann gemacht."

Es gibt ein Grundrecht für das, was Inge Lohmann fordert. Es heißt "Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung", so hat es das Bundesverfassungsgericht erstmals im Jahr 1989 formuliert. Das Wissen um die eigene Abstammung nehme "im Bewusstsein des Einzelnen eine Schlüsselstellung für Individualitätsfindung und Selbstverständnis ein", schrieb das Gericht. Man könnte auch sagen: Das Gericht hat damals den Mantel des Schweigens gelüftet, unter dem bis dahin Seitensprünge und illegitime Kinder verborgen bleiben sollten.

Künftig sollte die Wahrheit die Lüge ersetzen. Seit 2008 gibt es nun einen Paragrafen, mit dessen Hilfe die Familienangehörigen die genetischen Verhältnisse klären können. Der juristisch anerkannte Vater darf Mutter und Kind zur Wattestäbchenprobe zwingen, die Mutter darf das auch, ebenso das Kind. Doch gegen einen lediglich mutmaßlich leiblichen Vater wie bei Inge Lohmann greift dieser Anspruch nicht. Für einen solchen Fall bleibt nur eine Möglichkeit: die ganz normale Klage auf Feststellung der Vaterschaft.

Ein Urteil als unüberwindliche Wand

Schon früh hatte Lohmanns Mutter versucht, auf diesem Weg für klare Verhältnisse zu sorgen. 1954 wurden ein Blutgruppengutachten und ein "anthropologisch-erbbiologisches Gutachten" - damals war das der neueste Stand - eingeholt. Doch das Landgericht Krefeld wies die Klage am 18. Januar 1955 ab (Aktenzeichen 3 R 100/54). Seither steht rechtskräftig fest, dass der Mann mit der Zotteljacke nicht ihr Vater ist - das Urteil steht als unüberwindliche Wand quer in ihrer Biografie.

Obwohl die Mediziner heute viel mehr können als Blutgruppen und Ohrenformen zu vergleichen, hat das Oberlandesgericht Hamm ihr zuletzt vor zwei Jahren eine weitere Chance versagt. Deshalb hat Lohmanns Anwalt Paul Kreierhoff in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde eingereicht.

"Mit der Mörderbrut hat keiner mehr gespielt"

Inge war fast zwölf Jahre alt, als der Stiefvater erstochen wurde, aber die harte Zeit war noch nicht vorbei. Dass sie als Sozialhilfeempfängerin gehänselt wurde, war sie gewohnt, die Mutter war so arm, dass ihr die Nachbarn manchmal zu Weihnachten Essen vor die Tür stellten. Doch nach dem Tod des Mannes kam ein neues, ein brutaleres Schimpfwort hinzu. "Mörderbrut", so riefen sie ihr in der Schule hinterher. "Mit der Mörderbrut hat keiner mehr gespielt."

Hätte ihr der Vater nicht all dies ersparen können, ersparen müssen? Ist er überhaupt ihr Vater?

Nach dem Tod der Mutter im Jahr 1972 war der Kontakt zu ihm weitgehend abgebrochen, doch bis heute trägt Inge Lohmann ein Foto von ihm in der Brieftasche, ihre Mutter hat es ihr gegeben. Und es gibt ein Gedicht, das er ihr am 27. Juli 1964 ins Poesiealbum geschrieben hat, ein selbstgedichtetes: "der kreis ist ein sarg/in dem die nachtigallen singen./deshalb leben/aber mit vernunft leben."

Schreibt man das wildfremden Personen? Noch aussagekräftiger aber ist die Geburtsurkunde, die sie - warum auch immer - erst vor sechs Jahren bekommen hat. Vater unbekannt, steht dort, aber: Eingetragen wurde die Geburt "auf mündliche Anzeige" - und dann steht dort der Name ihres mutmaßlichen Vaters. Er war anwesend bei der Hausgeburt, er hat die Geburt offiziell angezeigt.

Aber was soll die Gewissheit eigentlich noch bringen nach all den Jahren, jetzt, da Inge Lohmann selbst Großmutter ist? Ist die "Individualitätsfindung", von der das Verfassungsgericht schreibt, mit 65 Jahren nicht längst abgeschlossen? Dazu hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2006 einen interessanten Satz geschrieben, und zwar in einem Fall aus der Schweiz, der dem ihren sehr ähnlich ist. Ein Mann, ebenfalls über 60, wollte seine Herkunft klären lassen, obwohl der vermutete Vater schon tot war. Er bezahlte sogar die Gebühren für das Grab, damit es nicht eingeebnet werden konnte, bevor das Verfahren zu Ende war. Der Gerichtshof gab ihm recht: "Das Interesse einer Person an der Kenntnis ihrer Abstammung" habe "absolut nichts mit dem Alter" zu tun. Und auch Inge Lohmann beharrt darauf: "Ich will wissen, wer ich bin."

Erstes Kind mit 15, Hochzeit mit 16

Wissen, wer man ist. Sie, die nie eine Ausbildung genossen hat, die mit 15 ihr erstes Kind bekommen und mit 16 geheiratet hat, schreibt Gedichte. So wie ihr mutmaßlicher Vater. Lohmann schreibt sie über sich selbst: "Geheimnis", "Nacht", "Der Spiegel", "Der Clown", so lauten die Titel. Und dann gibt es da noch so eine Seelenverwandtschaft. Inge Lohmann malt seit ihrer frühesten Kindheit. Auch der Mann, gegen den sie vor Gericht zieht, ist Kunstmaler von Beruf. Er hat Ausstellungen gemacht und Preise gewonnen. Vor 25 Jahren hat sie einmal eine Vernissage von ihm besucht. "Da hat er mich noch gekannt", erinnert sie sich. Er habe sie aufgefordert, sich zu ihm zu setzen.

Was wird, wenn sie nun recht bekommt in Karlsruhe? An eine Annäherung, gar eine Versöhnung glaubt sie nicht. Aber sie schaut im Internet immer wieder nach, was er so macht, der Mann, der nicht ihr Vater sein will. Sie weiß, wo er ausstellt, sie kennt seine Themen, sie schaut sich seine Bilder im Netz an. Sie sucht seine Nähe, wenigstens virtuell.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2748731
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 23.11.2015/max
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.