Süddeutsche Zeitung

Bundesgerichtshof:Wer ist schuld, wenn sich jemand auf Glatteis verletzt?

Man selbst oder derjenige, der nicht gestreut hat? Diese und ähnliche Fragen beschäftigen die Justiz immer wieder. Rechtsexperten sehen darin einen Trend, jede Verantwortung abzuwälzen.

Von Martin Zips

Wenn draußen Eis und Schnee liegen, ist das Leben besonders lebensgefährlich. Da kann es schon mal sein, dass, wie am 17. Januar 2010, ein Mensch ausrutscht. In diesem Fall jener Mann, der um 9.10 Uhr in der Münchner Innenstadt aus der Wohnung seiner damaligen Lebensgefährtin (und heutigen Ehefrau) trat - und zwar genau dorthin, wo noch eine vereiste Winzigkeit zu finden war. Der rechte Innenknöchel schmerzte sehr, am Ende bezifferte der Ausgerutschte vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe seinen Schaden auf 4291,20 Euro, den er - sei es von der Grundstückseigentümerin oder der Stadt - gerne beglichen bekommen hätte. Plus Schmerzensgeld, plus Zinsen. Der BGH lehnte die Revisionsklage ab. Ein oder zwei Schritte über das nicht gestreute Stück seien dem Mann schon zuzumuten gewesen, so die Richter.

Dass die Menschen auf Glatteis wandeln und keinen Augenblick sicher sein können, "dass wir nicht fallen" - darauf hat bereits der Philosoph Friedrich Theodor von Vischer Mitte des 19. Jahrhun- derts hingewiesen. Angesichts drohender Schicksalsschläge wünschte man sich früher aus diesem Grund ja "Hals- und Beinbruch". Heute reicht das nicht mehr. Und München ist und bleibt ein gefährlich glattes Parkett. Schon der klassizistische Bildhauer Ernst Mayer rutschte hier im Januar 1844 vor seinem Atelier tödlich aus.

Rechtswissenschaftler Rudolf Welser, Verfasser des juristischen Standardwerkes zum österreichischen Zivilrecht, betrachtet das "Verschwinden des Eigenrisikos" und die damit einhergehende "juristische Hochrüstung" skeptisch. Durch die (eigentlich guten) Ideen des Versichertseins und des Konsumentenschutzes sei in den vergangenen Jahrzehnten der Trend entstanden, "jedwede Verantwortung abzuwälzen, sogar dann, wenn es andere vernichten kann". Jeder Quadratzentimeter unseres Lebens, so könnte man sagen, verlangt mittlerweile nach einem eigenen Streuverantwortlichen. Welser macht sich keine Illusionen: "Die Mehrheit der Menschen findet das gut. Da kommen wir nicht mehr raus."

Umso folgenreicher, wenn's mal wieder fröstelt.

Weil er sich vor vier Jahren auf dem glatten Gehweg vor einem Berliner Hotel den Oberschenkel gebrochen hat, macht ein promovierter Jurist derzeit gleich 37 Millionen Euro Schadenersatz geltend. Durch den Sturz nämlich sei ihm ein Darlehensgeschäft und - in der Folge - ein Immobilienprojekt in eben dieser Höhe durch die Lappen gegangen, so argumentiert er. Auch über seine Forderung wird demnächst der Bundesgerichtshof entscheiden. Der Jurist betont, er habe Stiefel mit Profilsohlen getragen. Das ist klug. Wer nämlich das falsche Schuhwerk oder einen völlig idiotischen Weg zur Mülltonne wählt, den könnte möglicherweise eine Mitschuld treffen (Amtsgericht München, Aktenzeichen 212 C 12366/12, Urteil vom 27. Juli 2012).

Die "Räum- und Streupflicht" ist in Deutschland jedenfalls gut geregelt. Grundsätzlich obliegt sie dem Grundstückseigentümer, kann aber übertragen werden. Zum Beispiel von der Kommune auf die privaten Anlieger. Oder vom Eigentümer auf den Mieter. Wen auch immer es trifft: Geräumt werden muss meist werktags von sieben bis 20 Uhr und am Sonntag von acht bis 20 Uhr. Der Auswurf von Streusalz ist zum Schutze von Umwelt, Auto und Beton in den meisten Bundesländern nur der öffentlichen Hand erlaubt, nicht aber der Privatperson.

Ist ein 82-jähriger Senior zu alt zum Schneeschaufeln?

Wer allerdings die sogenannte Verkehrssicherungspflicht selbst mit Schaufel, Besen, Sand, Splitt oder Granulat nicht erfüllt, der muss Sanktionen fürchten. So droht zum Beispiel die bayerische Gemeinde Bergheim ihren Bewohnern Beweisfotos von schlecht geputzten Bürgersteigen sowie 500 Euro Bußgeld an. In einigen hessischen Kommunen müssen Räumdilettanten gar mit einer Strafe von bis zu 2000 Euro rechnen, wovon in der Praxis allerdings kaum Gebrauch gemacht wird. Und der "Eifelpark" schließt bei Glatteis. Zu gefährlich, dass die Park-Maskottchen Purzel und Tatze dort bei fehlender Zentripetalkraft aus der Kurve geraten. Ob zudem ausgerechnet ein 82 Jahre alter Senior für die Schneeräumung "zuverlässig und leistungsstark" genug ist, sollte durch die Wohnungseigentümergemeinschaft regelmäßig "kritisch überprüft" werden, empfiehlt zum Beispiel das Oberlandesgericht Oldenburg.

Dass Schmerzensgeld und Schadenersatzansprüche nicht nur in den USA, sondern auch in Europa "signifikant in die Höhe schnellen", erfüllt Rechtswissenschaftler Rudolf Welser jedenfalls mit Sorge. Doch der Münchner Deliktsrechtler Johannes Hager beruhigt: "Das BGH unterscheidet in seiner Rechtssprechung sehr wohl zwischen Unrecht und Unglück. Und genau das ist auch vernünftig."

Das Leben ist und bleibt eben ein rutschiges Parkett. Und nur selten bietet Glatteis dem ein oder anderen auch mal eine Chance, wie zum Beispiel den olympischen Eistänzern Virtue und Moir oder dem "Glatteis-Spion" genannten DDR-Agenten Reiner Paul Fülle im Januar 1979. Der hatte den Sturz des BKA-Beamten, der ihn in Karlsruhe begleitet hatte, schlicht zur Flucht genutzt. Legendär auch die Aktion des Fußballtrainers Uwe Klimaschefski, der ganz im Sinne des durch Krankheit geschwächten FC Homburg den Platz durch die Bewässerung des Mittelkreises in eiskalter Nacht kurz vor dem nächsten Match unbespielbar werden ließ. Aber das ist eine andere Geschichte.

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SZ vom 22.02.2018/afei
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