Buchverkäufer in Paris:Boulevard Bolek

Analphabet, Bergarbeiter, Hippie, Maler, Buchautor: Bolek, ein in Paris stadtbekannter polnischer Buchverkäufer, hat viele Leben.

Gerd Kröncke

Sicher hat er auch einen richtigen Namen, sogar einen Vornamen, der laut Pass wahrscheinlich Boleslav lautet, aber seit vielen Jahren heißt er für alle, die ihm zuhören, Bolek. Nichts weiter, nur Bolek. Er hat sich den Namen selbst ausgesucht und man gewöhnt sich daran, so, wie man es hinnimmt, dass Bolek jedermann duzt. In seinem Alter und mit seiner Biographie darf man das. Bolek ist nun 63 Jahre alt.

Buchverkäufer in Paris: Boleks Kiosk befindet sich am Franz-Liszt-Platz in Paris, gleich vor der Kirche. Das Leben des Buchverkäufers ist eine Geschichte der Auferstehungen.

Boleks Kiosk befindet sich am Franz-Liszt-Platz in Paris, gleich vor der Kirche. Das Leben des Buchverkäufers ist eine Geschichte der Auferstehungen.

(Foto: Foto: Kröncke)

Er steht so lange es hell ist vor seinem Kiosk, der kleineren Variante, wie sie die Stadt Paris für die Zeitungshändler an weniger exponierten Plätzen aufgestellt hat. Boleks Kiosk findet sich am Franz-Liszt-Platz, der von der Kirche Vincent-de-Paul überragt wird. Bolek verkauft keine Zeitungen, nur Bücher. Ausgelesene Bücher, die ihm Freunde, Kunden, Passanten überlassen haben. Da ist nichts Großartiges darunter, schon gar nichts Bibliophiles. Es sind Bücher zum Lesen, nicht zum Sammeln.

Wie bei van Gogh

Da steht er, tagein, tagaus, und von wem er glaubt, er hätte so viel Zeit wie er, der wird von ihm ins Gespräch gezogen. Bolek, Kind polnisch-litauischer Eltern, hat auf seine alten Tage das bisschen Anerkennung gefunden, das ihm zusteht. Dafür hat er seine zwei, drei Leben hinter sich. Als junger Mensch, damals Ende der fünfziger Jahre, hatte er sich im Kohlebergbau verdingt, wie das im armen Norden Frankreichs üblich war. Vor allem bei den Polen, die vor der aussichtslosen Armut der alten Heimat in die neue Armut der Fremde geflohen waren. Gewiss, das war nicht mehr wie zu Zeiten des "Germinal", nicht, wie Emile Zola es hundert Jahre zuvor beschrieben hatte. Gleichwohl war es härter als alles, was heutige Schulabgänger erwartet. Aber was heißt Schulabgänger, Bolek schuftete mit vierzehn in der Zeche und war mit achtzehn noch Analphabet.

Das würde man nicht für möglich halten, wenn man ihn bei seinen Büchern sieht. Man wundert sich, wie viele dieser winzige Kiosk fassen kann. Bolek ist süchtig nach Büchern, so wie er süchtig ist nach Musik. Aus dem Innern tönt Mozart. Außerdem ist Bolek Maler. In seiner Dachstube im Neunten Arrondissement, er hat es nicht weit von seinem Kiosk, malt er mit breitem Strich und zarten Farben. An Vorbildern hat es ihm nicht gefehlt, da will er nicht zu bescheiden sein.

Er fühlt sich van Gogh verbunden: "Wie bei van Gogh sind meine Bilder nur mit einem Vornamen signiert." Manchmal reist er einen halben Tag nach Auvers-sur-Oise im Norden von Paris, wo Vincent van Gogh zuletzt gelebt hat. Wer will, kann Boleks Bilder gleich mitnehmen, sie sind mindestens so erschwinglich, wie die des Vincent van Gogh zu dessen Lebzeiten gewesen sind. Im Bürgermeister-Amt des Arrondissements wurden dieser Tage die Bilder abgehängt, Bolek hatte eine Ausstellung. Der Sozialist Jacques Bravo, Monsieur le Maire des Arrondissements, gehört zu seinen Förderern.

Irgendwie ist Bolek immer Pole geblieben. Er ist wie ein Pole nach seiner Vorstellung sein sollte. Man muss ihn sehen, wenn eine Dame auch nur einen Moment vor seinem Kiosk verharrt. Dann können wir noch so lange miteinander geplaudert haben, dann zählen wir plötzlich gar nichts mehr. Dann umturnt Bolek erstaunlich leichtfüßig die junge oder weniger junge Frau, mit oder ohne Kind. Er gestikuliert, redet, flüstert auf sie ein, und jedes Mal läuft die Szene darauf hinaus, dass er sie mit einem umständlichen Handkuss verabschiedet und sehr nachdrücklich darum bittet, bald wieder vorbeizuschauen.

In diesem Viertel kennen ihn die Menschen seit mehr als zwanzig Jahren. Früher, als er vom Norden heruntergekommen war, hatte er in den Hallen gearbeitet, im Bauch von Paris. Im Bergbau, da war keine Zukunft, schon gar nicht für einen jungen Mann, der was werden wollte. Auch war ihm klargeworden, dass er, wollte er reüssieren im Leben, lesen lernen müsste. In jenen Jahren konnte passieren, was heute wieder möglich ist: Dass einer sich durchschlagen musste - ohne seinen eigenen Namen buchstabieren zu können. Bolek brachte sich das Lesen und Schreiben selber bei. Das mag sich später verklärt haben, jedenfalls beschreibt er es so, dass er sich ein Buch vornahm, Seite für Seite die einfachsten Wörter herausschrieb und sie so lange lernte, bis er irgendwann lesen konnte.

Hochmut des Autodidakten

So entdeckte er die Großen, die er heute in wohlfeilen Ausgaben aus dritter Hand verkauft. Neben vielerlei vergänglichem Druckwerk findet sich bei Bolek manches, das zum Bildungskanon gehört. Er hatte lange warten müssen, bis er diese Welt für sich entdeckte, bis er endlich Tolstoi, Balzac und Puschkin lesen konnte. Mit dem Hochmut des Autodidakten versuchte er seinem Milieu zu entkommen. Nach den Bergwerken des Nordens kamen die Hallen von Paris. Das war nicht unbedingt ein Aufstieg, war aber nötig, um zu überleben. Andere mögen die Zechen auch überlebt haben, aber nicht so lange wie er, dem die Staublunge erspart blieb. Eine Weile hatte Bolek auch die Abenteuer der siebziger Jahre versucht, wurde eine Art Hippie, was wie bei so vielen eine vorübergehende Phase wurde.

Er war noch nie glücklicher

Einmal hatte er in seinem Viertel Freundschaft mit einem Zeitungshändler geschlossen, und als der sich zur Ruhe setzte, übernahm er den Kiosk, den er danach viele Jahre lang führte. Zeitungshändler zu sein erschien ihm als die große Freiheit. Bis sein Kiosk angeblich unrentabel wurde, bis er vom Grossisten nicht mehr beliefert wurde. Seither verkauft er nur noch Bücher.

Das war zwar nicht ganz legal, aber die Leute kannten ihn, er war inzwischen das, was man ein Original nennt. Als sie ihm den Laden zumachten, den Kiosk an der Métro-Station Poissonière einfach stilllegten, da erfuhr er plötzlich, wie viele Freunde er inzwischen hatte. Bolek, der Buchhändler, Bolek, der Maler, Bolek, der Geschichtenerzähler, gehörte so sehr in seine Gegend, dass sich Journalisten und andere dermaßen für ihn starkmachten, bis die Obrigkeit nachgab und ihm einen neuen Kiosk zuwies. Der ist nun, gleich an der Kirche Vincent-de-Paul, Place Franz Liszt, sein Heim und sein Refugium bis zum Sonnenuntergang.

Hier verbringt er seine Tage und wartet. Auf einen, der ein Taschenbuch kauft, auf eine Dame, der er den Hof machen kann, in allen Ehren. Oder auch nur auf einen, der das Fotolabor gegenüber frequentiert, mit dem er über Bilder reden kann. Dort verkehren Schwarz-Weiß-Fotografen, die sich noch dem digitalen Knipsen verweigern. Das Finanzamt, mit dem Bolek mal nachhaltigen Ärger durchstehen musste, hatte zuletzt noch die Hand auf seine Leica gelegt. Nun hofft er, dass ihm eines Tages jemand eine leihen möge. Der Fiskus kann ihm schon lange nichts mehr anhaben, bei ihm ist nichts zu holen. Und doch ist er selten glücklicher gewesen als in diesen Tagen.

Außerdem kann man neuerdings bei Bolek auch sein eigenes Buch kaufen. Zusammen mit einem Journalisten hat er seine Geschichte zu Papier gebracht. "Je voulais pas crever", heißt es, "ich wollte nicht krepieren". Eine Ausstellung, ein Buch, beides in einem Jahr. Da lässt sich die Armut besser ertragen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: