Süddeutsche Zeitung

Brexit:Not very British

  • Kürzlich kam in Großbritannien das Videospiel "Not Tonight" auf den Markt.
  • Tim Constant vom kleinen britischen Spieleentwickler Panicbarn hat nach eigener Aussage ein "sehr satirisches" Spiel produziert.
  • "Not Tonight" spielt in in einer dystopischen, nahen Zukunft. Mit einem feinen Unterschied: Es gab keinen Terrorangriff, sondern die Brexit-Verhandlungen sind gescheitert.

Von Alexander Menden

Im Computerspiel "The Division 2" rennt man als Agent einer Truppe Bewaffneter durch die Gegend und erschießt Menschen; böse Menschen, versteht sich. Das Spiel basiert auf einer Idee des Bestsellerautors Tom Clancy, es ist in der nahen Zukunft angesiedelt. Die öffentliche Ordnung ist nach einem Terrorangriff zusammengebrochen, die Agenten bekämpfen eine korrupte Macht innerhalb der Regierung. "Wie rettet man eine Nation, wenn der Feind von innen kommt?", fragt eine Unheil verkündende Stimme im Trailer, und als der im Sommer vorgestellt wurde, entwickelte sich in der Szene rasch eine Debatte: Gibt es hier nicht einen eindeutigen Bezug zur aktuellen politischen Lage in den USA? Der Spieleentwickler Ubisoft stritt das ab. Die Frage aber, ob Videospiele eine politische Agenda haben, wird seit einiger Zeit immer wieder gestellt.

Nach Ansicht von Game-Theoretikern wie dem Briten Alfie Brown, Autor des Buches "The Playstation Dreamworld", sind die meisten Spiele angetrieben von "konservativen, patriarchalischen und imperialistischen Werten", die durch Gewalt aufrechterhalten würden - egal, ob es sich um historische Szenarien oder galaktische Zivilisationen handelt. Fragt man die Entwickler, reagieren sie meist wie Ubisoft: Man sei neutral und wolle bloß unterhalten.

Umso ungewöhnlicher ist das Verhalten der Entwickler eines Spiels, das kürzlich in Großbritannien auf den Markt kam. Tim Constant vom kleinen britischen Spieleentwickler Panicbarn hat in seinem neuen Indie-Simulationsgame "Not Tonight" nach eigener Aussage ein "sehr satirisches" Spiel produziert - und natürlich sei es ein politisches Spiel, sagt Constant. Ästhetisch hat "Not Tonight" eine pixelige 16-Bit-Retro-Erscheinung und spielt, ähnlich wie "The Division 2", in einer dystopischen, nahen Zukunft. Mit einem feinen Unterschied: Es gab keinen Terrorangriff, sondern die Brexit-Verhandlungen sind gescheitert.

Irgendwann muss der Spieler sich entscheiden, ob er dem Regime weiter dienen will

Die totalitäre Regierung in Westminster hat alle kontinentaleuropäischen Bürger ihrer Rechte beraubt und in Ghettos umgesiedelt, sogenannte Relocation Blocks. Der Spieler, der die Figur "Person europäischer Abstammung Nummer 112" leitet, hat nur die Chance, im Land zu bleiben, wenn er als Türsteher eines Nachtklubs genügend Geld verdient. Seine Hauptaufgabe ist es, die Ausweispapiere der Nachtklubbesucher zu überprüfen. Im Laufe des Spiels kann man nicht nur seine Wohnung möblieren und seine Ausrüstung erweitern, sondern auch zum Zollbeamten an der neu errichteten "London Wall" aufsteigen, der dann also seinerseits unerwünschte Immigranten an der Einreise hindert.

Irgendwann muss der Spieler sich entscheiden, ob er dem diktatorischen Regime weiter dienen oder sich dem Widerstand anschließen will. Ein weiteres Problem stellt die rechtsextreme, fremdenfeindliche Terrororganisation "Albion First" dar, die Bombenanschläge auf Kneipen verübt und versucht, die EU-Ausländer als Schuldige dastehen zu lassen. Wenn man alles richtig macht, werden die Terroristen gefasst, die Londoner Mauer wird eingerissen, die EU-Ausländer dürfen in ihre früheren Wohnungen zurück, und "alle einigen sich darauf, nie mehr von alldem zu sprechen". Das britischste Ende, das sich denken lässt.

Generell sollte Politik eine größere Bedeutung in Videogames spielen, findet Tim Constant. Die Gleichsetzung der Rolle eines Türstehers mit der eines Zollbeamten, die ganze Frage: "Wen lässt man rein, wen nicht?", habe ihn gereizt, weil sie die Absurdität der Brexit-Situation und jeder Anti-Immigrationspolitik zeige. Zugleich ist das Spiel als Kritik an der "Gig Economy" gedacht, in der ausländische Arbeitskräfte für kurzfristige, schlecht bezahlte Jobs herangezogen werden.

Allerdings ist "Not Tonight" bei Brexit-Gegnern auf Kritik gestoßen

Allerdings ist "Not Tonight" gerade bei Brexit-Gegnern auf Kritik gestoßen. Der Verband "The3Million", der sich für die Interessen der in Großbritannien lebenden EU-Ausländer einsetzt, hat es "geschmacklos" genannt, da es mit "den schlimmsten Befürchtungen von Menschen spiele", deren künftiger rechtlicher Status ungeklärt sei. Premierministerin Theresa May hat zwar versprochen, dass bereits in Großbritannien lebende EU-Ausländer nach dem Brexit, "im Großen und Ganzen" ihre bisherigen Rechte behalten werden. Was das genau bedeutet, weiß aber niemand. Auf der Grundlage solcher Ängste solle man keine Videospiele herstellen, so der Interessenverband.

Olivier Mauco, Professor am Pariser Institut d'études politiques, sieht das hingenen ganz anders: Spiele wie "Not Tonight" böten die Gelegenheit, gefahrlos mögliche Zukunftsszenarien durchzuspielen. "Es gibt einem die Möglichkeit, in einem dystopischen Großbritannien zu leben", sagt Mauco, "mit dem Effekt, dass man die Konsequenzen seiner Entscheidungen im wirklichen Leben besser versteht." Vielleicht wäre es ja gut gewesen für Großbritannien, wenn das Spiel schon vor der Brexit-Abstimmung herausgekommen wäre.

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SZ vom 02.10.2018/fzg/cat
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