Süddeutsche Zeitung

Sozialarbeiter im Fall Kevin:Rückkehr des Beschuldigten

Kevin wurde von seinen Eltern misshandelt, bis er starb. In seinem Prozess wegen fahrlässiger Tötung galt der für den Jungen verantwortliche Sozialarbeiter als nicht verhandlungsfähig. Arbeitsfähig sei er aber schon, bescheinigt ihm nun ein Amtsarzt.

Ralf Wiegand

Einer der Hauptschuldigen am Behördenversagen, das den Tod des zweieinhalbjährigen Kevin aus Bremen mitverschuldet hat, wird wieder im Amt für soziale Dienste der Hansestadt beschäftigt. Der Sachbearbeiter Günther J. war zuletzt neben Kevins Amtsvormund mitangeklagt wegen fahrlässiger Tötung.

Das Verfahren gegen den 58-Jährigen, der mit der Akte Kevin betraut war, hatte jedoch eingestellt werden müssen, da J. von einer Gutachterin als dauerhaft verhandlungsunfähig eingestuft worden war.

Die Sozialbehörde des Bundeslandes hatte daraufhin versucht, J. wegen Arbeitsunfähigkeit in den Ruhestand zu schicken, wogegen der sich aber zur Wehr setzte. Nun hat eine amtsärztliche Untersuchung ergeben, dass J. voll arbeitsfähig ist.

Die Sozialbehörde nimmt keine Stellung zu dem Fall. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung wird das Amt J. wieder zur Arbeit einbestellen. Er wird aber nicht an seinen alten Arbeitsplatz zurückkehren und keine Fälle mit Kindern oder Jugendlichen mehr betreuen. Die Staatsanwaltschaft Bremen prüft, ob es Anhaltspunkte gibt, die Verhandlungsfähigkeit des Sozialarbeiters neu bewerten zu lassen.

Günther J. gilt als eine Schlüsselfigur im Fall Kevin. Der Junge war im Oktober 2006 tot im Kühlschrank seines Ziehvaters gefunden worden. J. war "Case-Manager", also Sachbearbeiter des Fachdienstes Junge Menschen im Sozialamt des Bremer Stadtteils Gröpelingen und in dieser Funktion seit 26. Februar 2004 für die "Kindeswohlsicherung" des einen Monat zuvor geborenen Kevin zuständig. Das Klinikum, in dem der Junge geboren worden war, hatte Zweifel an der Erziehungsfähigkeit der drogensüchtigen Eltern geäußert.

Die Staatsanwaltschaft hatte J. in der Anklage wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen vorgeworfen, über zwei Jahre alle Anzeichen, die auf eine Kindeswohlgefährdung hingedeutet hatten, entweder übersehen, falsch bewertet oder unangemessen darauf reagiert zu haben. J. hat nach Ansicht der Staatsanwaltschaft alle Gelegenheiten verstreichen lassen, Kevin aus seiner Familie zu nehmen - und damit auch in Sicherheit vor seinem Vater zu bringen, der ihn später tötete.

Auch der mitangeklagte Amtsvormund warf J. vor, ihn falsch oder nicht ausreichend informiert zu haben. Das Verfahren vor dem Bremer Landgericht gegen den Amtsvormund, inzwischen 67 Jahre alt und pensioniert, war am Mittwoch gegen eine Geldauflage von 5000 Euro eingestellt worden - auch, weil das Versagen von J. als schwerwiegender galt.

J. hatte sich nach Kevins Tod zunächst krank schreiben lassen, war dann aber wieder zur Arbeit erschienen. In Bremen brach ein Sturm der Empörung los, der die Sozialbehörde veranlasste, J. freizustellen - bei vollen Bezügen. Der Casemanager hatte lediglich vor der Polizei und der Innenrevision der Sozialbehörde zum Fall Kevin aussagen müssen; dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Bremischen Bürgerschaft, im Prozess gegen Kevins Ziehvater oder jetzt selbst als Angeklagter stand er aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Verfügung.

Der Versuch der Sozialbehörde, J. nach dessen Angaben gegenüber der Innenrevision zu kündigen, scheiterte am Personalrat. Nachdem er als dauerhaft verhandlungsunfähig eingeschätzt worden war, legte ihm die Behörde nahe, einen Rentenantrag zu stellen. J. lehnte ab. Nun kann er das amtsärztliche Attest vorweisen, das ihn wieder zurück ins Amt für soziale Dienste bringt. Ursprünglich hatte er angeblich sogar seine alte Stelle wieder antreten und sich ums Kindeswohl kümmern wollen.

Nach SZ-Informationen soll das Gutachten für das Gericht bescheinigt haben, sein Kreislauf reagiere schon unter klinischen Bedingungen auf die Konfrontation mit dem Fall mit sehr gefährlichem Blutdruck. Eine Konfrontation mit dem Fall vor Gericht und in der Öffentlichkeit sei daher lebensbedrohlich.

Gilt das nun noch, wenn J. doch in der Lage ist, in seine alte Behörde zurückzukehren? Die Staatsanwaltschaft Bremen will die neue Sachlage prüfen. "Arbeitsfähigkeit und Verhandlungsfähigkeit sind aber unterschiedliche Dinge", sagte Staatsanwalt Jörg Hauschild. Seine Behörde werde versuchen, Einblick in das amtsärztliche Gutachten zu bekommen.

Ob sich daraus der Schluss ergibt, die Verhandlungsfähigkeit könnte neu überprüft und das Verfahren gegen J. wieder aufgenommen werden, bleibt so lange offen. Theoretisch möglich wäre es: Die Strafprozessordnung sieht vor, dass ein Verfahrenshindernis wie eine Krankheit auch wieder entfallen kann.

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Quelle:
SZ vom 27.08.2010/pfau
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