Prozess gegen Norwegen-Attentäter in Oslo:Staatsanwaltschaft hält Breivik für unzurechnungsfähig

Seine Taten sind so monströs, dass der menschliche Verstand Mühe hat, sie zu fassen. Doch ist der norwegische Attentäter Anders Behring Breivik deshalb unzurechnungsfähig? Die Anklagevertretung in Oslo ist der Überzeugung: ja. Sie plädiert darauf, den 33-Jährigen in einer psychiatrischen Einrichtung unterzubringen.

Lena Jakat

Wo beginnt die Unzurechnungsfähigkeit eines Menschen? Wenn seine Taten für die Umwelt nicht zu verstehen sind? Wenn die Begründung dafür wirr und versponnen klingt? Wenn er eine Gefühlskälte zeigt, die Zuhörer und Betrachter erschauern lässt? Zehn Wochen lang schwebten diese Fragen über all den grausamen Details, all den psychiatrischen Expertisen, die den Gerichtssaal 250 des Osloer Bezirksgerichts füllten.

Zeitstrahl: Breivik - vom Extremisten zum Massenmörder

Ist Anders Behring Breivik, der Mann, der im vergangenen Sommer bei Anschlägen in Oslo und auf der Ferieninsel Utøya 77 Menschen tötete und Norwegen in ein nationales Trauma stürzte, für seine Taten vollumfänglich verantwortlich zu machen?

Die Staatsanwaltschaft ist der Ansicht: nein. Die Osloer Anklagevertretung hält den Massenmörder für nicht zurechnungsfähig und liegt damit auf Linie eines ersten psychiatrischen Gutachtens. Staatsanwalt Svein Holden spricht sich am Ende seines Plädoyers am Donnerstagnachmittag für eine Zwangseinweisung des 33-jährigen Islamhassers in eine geschlossene Psychiatrie aus.

"Holden hält uns hin"

Zwei Stunden lang führt Holden die juristischen Rahmenbedingungen für die Schuldfähigkeitsfrage aus. "Es ist schlimmer, eine psychotische Person ins Gefängnis zu sperren als eine nicht psychotische in die Psychiatrie", sagt Holden. Die Frage sei: "Können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass Breivik während seiner Taten psychotisch war?" Falls dies nicht gegeben sei, schlussfolgert der Staatsanwalt, müsse der Attentäter in die Psychiatrie eingewiesen werden.

Die Korrespondenten im Gerichtssaal verfolgen Holdens Ausführungen mit wachsender Ungeduld. Zehn Wochen haben sie über Breiviks psychische Verfassung spekuliert, Experten gehört, den Konflikt zwischen Breiviks Pochen auf die eigene Zurechnungsfähigkeit und den Hinterbliebenen geschildert, die auf eine Gefängnisstrafe hoffen. Sie wollen endlich eine Antwort hören. "Holden hält uns immer noch hin. Ein schlafender Journalist ist wieder aufgewacht", twittert zwischenzeitlich Ben McPherson, der den Prozess für das Nachrichtenportal theforeigner.no begleitet.

Nicht den leisesten Zweifel will Holden augenscheinlich daran aufkommen lassen, dass er alle Argumente in Betracht gezogen, alle Eventualitäten erwogen hat, als er schließlich verkündet, zu welcher Ansicht die Staatsanwaltschaft nach zehn Wochen nervenaufreibender Gerichtsverhandlung gelangt ist: Die Zweifel an Breiviks Schuldfähigkeit seien zu groß, der Angeklagte als nicht zurechnungsfähig einzustufen.

Mit ihrer Überzeugung stellt sich die Anklagevertretung gegen die Meinung der meisten Norweger. Am Morgen veröffentlichte der öffentlich-rechtliche Sender NRK eine Umfrage: 74 Prozent aller Norweger halten Breivik für schuldfähig. Er selbst pocht ebenfalls auf seine Zurechnungsfähigkeit. Dementsprechend wird das Verteidigerteam um Anwalt Geir Lippestad in seinem Plädoyer aller Voraussicht nach am Freitag auch auf eine Gefängnisstrafe plädieren.

Die Frage der Zurechnungsfähigkeit Breiviks steht im Zentrum der vorerst beiden letzten Verhandlungstage. Am Freitag soll neben der Verteidigung auch der Angeklagte selbst noch einmal zu Wort kommen. Eine Stunde Redezeit hat Breivik gefordert. Danach beginnen in Norwegen mit der Sommersonnenwende erst einmal die Ferien. Die endgültige Entscheidung über die prozessentscheidende Frage verbleibt bei den Richtern um Elizabeth Arntzen. Frühestens in vier Wochen wird mit ihrer Entscheidung gerechnet. Das Urteil soll am 20. Juli oder 24. August fallen.

Am Donnerstagmorgen ging es jedoch nicht so sehr um den Täter, als vielmehr um die Opfer: der Vormittag in Oslo in der Nachlese.

Staatsanwältin zollt Überlebenden Respekt

Anklägerin Inga Bejer Engh betritt den Saal um kurz nach zwölf Uhr mittags, begrüßt die Kollegen per Handschlag, lächelt. Sie faltet das Jackett ihres beigefarbenen Hosenanzugs zusammen und streift sich die Robe des Gerichts über. Die 41-Jährige Juristin bestreitet derzeit den schwierigsten Prozess ihrer Karriere und sie hat diese fast übermenschliche Aufgabe, als Anklagevertreterin die Beweislage möglichst objektiv zu durchleuchten, nach der einhelligen Meinung aller Beobachter bislang hervorragend gemeistert. Sie entlarvte die narzisstischen Luftschlösser, die der rechtsextreme Angeklagte in seinem 1500-seitigen Pamphlet aufbaute und vor Gericht erneut ausmalte, durch ständige kritische Nachfragen.

Nachdem die Vorsitzende Richterin Wenche Elizabeth Arntzen die Sitzung eröffnet hat, tritt die blonde Frau ans Mikrofon. Nach einem charmanten Hinweis an die Übersetzer eröffnet Engh das Plädoyer der Staatsanwaltschaft. "Eine lange und herausfordernde Strafsache geht bald zu Ende", sagt sie. Sie spricht von den Opfern des 22. Juli 2011, davon wie sie ihre "Lebenskraft auch im Zeugenstand bewiesen" hätten, davon, dass sie Zufallsopfer gewesen seien, die stellvertretend für die offene Gesellschaft stünden, "die wir alle so schätzen", sagt Engh.

Realität des Unbegreiflichen

Sie habe sich selbst immer wieder daran erinnern müssen, dass die Anschläge Wirklichkeit seien. Damit spricht sie vielen Norwegern aus der Seele, die das Grauen von Utøya nur schwer mit dem sachlichen Prozess in Oslo vereinbaren können.

Es sei die Aufgabe der Staatsanwaltschaft gewesen, diese Strafsache zu behandeln wie jede andere auch, stellt die Juristin klar. "Das war nicht immer leicht." Engh schließt ihre einführenden Bemerkungen mit der ernüchternden Feststellung: "Wie in jedem anderen Verfahren haben wir auch in diesem Prozess erkennen müssen, dass wir nicht alle Fragen ausreichend beantworten können." Einige würden für immer unbeantwortet bleiben. "Das ist eine schlimme Erkenntnis in einer Sache wie dieser", sagt Engh.

Im Gerichtssaal, der an diesem Tag bis auf den letzten Platz besetzt ist, und vor den Augen der Weltöffentlichkeit - die Verhandlung wird auch im Ausland live im Fernsehen übertragen - nimmt Engh dann noch einmal Breiviks Variante der Ereignisse auseinander: das angeblich wegweisende Treffen der Tempelritter in London, das nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft nie stattgefunden hat, die Reise nach Liberia, das Verfassen des Pamphlets. Sie trägt ihre Rede mit fester, entschlossener Stimme vor. Als die Sprache auf die Zeugenaussage der Überlebenden von Utøya kommt, lächelt sie ein entschiedenes Lächeln. Es wirkt, als wolle sie damit aufsteigende Tränen zurückdrängen.

Breivik ohne merkliche Regung

Breivik selbst, wie immer in dunklem Anzug und heller Krawatte, verfolgt die Ausführungen ohne sichtbare Regung. Den Blick hat er nach unten gerichtet, nur ab und zu verzieht er das Gesicht zu einem Grinsen, etwa wenn Engh ihn als tragische Figur bezeichnet.

Zur alles entscheidenden Frage nach der Schuldfähigkeit des Angeklagten sagt Engh nichts. Fast nichts. Die eigentlichen Taten seien angesichts dieser Frage in den Hintergrund getreten, und das sei falsch. Im Gericht würden andere Regeln gelten als in der öffentlichen Debatte, sagt Engh noch. Den heikelsten Teil des Plädoyers jedoch trägt sie nicht selbst vor. Sie überlässt es ihrem Kollegen Svein Holden, auf die entscheidende Frage des Prozesses die Antwort der Staatsanwaltschaft zu geben.

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