Süddeutsche Zeitung

Brasilien:Wo Termiten seit 4000 Jahren eine riesige Stadt erbauen

  • In der Savanne von Caatinga in Brasilien stehen etwa 200 Millionen nahezu identische Termitenhügel auf einer Fläche so groß wie Großbritannien.
  • Manche dieser Hügel sind bis zu 4000 Jahre alt.
  • Das unterirdische Reich, von dem diese Hügel zeugen, ist eines der größten Bauwerke, die Insekten jemals errichtet haben.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Eigentlich war der britische Insektenforscher Stephen J. Martin im Nordosten Brasiliens unterwegs, um seine Studien über das weltweite Sterben der Bienen voranzutreiben. Auf der Landstraße durch die Savanne von Caatinga staunte er über die vielen Erdhaufen rechts und links. Sie waren rund 2,5 Meter hoch und etwa neun Meter breit und sie säumten den ganzen Weg, stundenlang. Martins erste Vermutung war, dass es sich um die Überreste vom Straßenbau handelte. Da sagte einer seiner lokalen Begleiter: "Ach, das sind doch nur Termitenhügel."

Die Caatinga ist etwa doppelt so groß wie Deutschland. Die wenigen Menschen, die hier leben, kennen diese Hügel schon lange. Aber sie hielten sie für nichts Besonderes. Sie gehörten für sie zur Landschaft dazu wie die weißen Bäume, deren Stämme und Äste von der Sonne ausgebleicht wie Knochen aussehen. Es musste schon ein Fremder wie Martin kommen, um sich über die Baukunst der Termiten zu wundern.

In der Caatinga gibt es etwa 200 Millionen Termitenhügel

Bei seiner zweiten Forschungsreise nach Caatinga, so erzählte er es gerade der New York Times, war er mit dem Ökologen Roy R. Funch von der brasilianischen Universität Feira de Santana unterwegs. Martin sagte: "Das müssen ja Tausende dieser Hügel sein!" Funch entgegnete: "Nee, es sind eher Millionen." Inzwischen wissen sie, dass sie das Ausmaß dieser Hügellandschaft beide kolossal unterschätzt haben.

Im Fachmagazin Current Biology ist soeben der Forschungsbericht von Martin und Funch erschienen. Demnach befinden sich in der Caatinga etwa 200 Millionen nahezu baugleiche Termitenhügel, die sich in faszinierender Regelmäßigkeit über eine Fläche von 230 000 Quadratkilometer erstrecken. Das entspricht ungefähr der Größe des Territoriums von Großbritannien (oder in eine deutsche Maßeinheit umgerechnet: ungefähr 89,5 mal dem Saarland). Einige dieser Haufen sind fast 4000 Jahre alt, an anderen wird immer noch gewerkelt. Das gesamte abgeräumte Erdreich beziffern die Forscher auf mehr als zehn Kubikkilometer. Zur Veranschaulichung haben sie das in ägyptische Pyramiden umgerechnet. Was die brasilianischen Termiten geschaffen haben, entspricht demnach dem Volumen von 4000 Cheops-Pyramiden. In der Studie steht: "Es handelt sich um eines der größten Bauwerke, die jemals von einer Insekten-Spezies errichtet wurden."

Wo der Wald verschwindet, verschwinden auch die Termiten

Ob sich der Rekord tatsächlich auf die Insektenwelt beschränkt? Die Spezies Mensch hat jedenfalls noch keine Stadt von derartigen Ausmaßen gebaut. Die Termitenart Syntermes dirus, die hier am Werk war, musste das alles Sandkorn für Sandkorn erledigen. Die Tiere sind etwa einen Zentimeter groß und klacken so laut mit ihren messerscharfen Mundwerkzeugen, dass sie von der lokalen Bevölkerung "Click Click" getauft wurden.

Es lässt sich jetzt darüber streiten, was erstaunlicher ist: dass ein kleines Insekt eine der größten jemals von Lebewesen erschaffenen Strukturen aufgebuddelt hat? Oder dass die Menschheit Jahrtausende brauchte, um dieses Wunderwerk der Baukunst zu entdecken?

Ermöglicht wurde das wohl nur durch die Abholzung in jüngster Vergangenheit. Dadurch kamen mehr und mehr Hügel zum Vorschein und ihre geometrische Anordnung wurde bei Google Earth erkennbar. So stieß Funch auf sie. Dort, wo der Wald verschwindet, verschwinden aber auch die Termiten. Denn sie ernähren sich offenbar von den einmal jährlich nach einer kurzen Regenzeit herabfallenden Blättern. Martin und Funch gehen davon aus, dass sie das Laub dann in ihrem Tunnelsystem horten. Sie räumen aber auch ein: Was dort unten tatsächlich passiert und wie der Termitenstaat strukturiert ist, darüber wisse man "absolut nichts". Es wurde in der gesamten Region auch noch nie die Kammer einer Königin entdeckt.

Zur ihrer Überraschung fanden die Forscher keinerlei Nester, weder in noch unter den Hügeln. Herkömmliche Termitenarten bauen diese als eine Art Kamin, um ihre Kammern und Gänge zu belüften. In den Hügeln von Caatinga gibt es aber kein Belüftungssystem. Es handelt sich schlicht und einfach um Schutthaufen. Was Martin und Funch gerade entdeckt haben, sind wohl die 200 Millionen Müllhalden eines unterirdischen Königreiches, über dessen gesamte Dimension sich nur spekulieren lässt. Und über das man am besten wieder Wald wachsen lassen sollte.

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Quelle:
SZ vom 24.11.2018/csi
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