Süddeutsche Zeitung

Brasilien:Die Bagger rücken an

Da Brasiliens Hauptstadt wächst und wächst, bangen viele Indigene um ihre Dörfer - auch um ihr Leben. Die Geschichte des Stammes der Kariri-Xocó, wo man auf die Rettung durch gute Geister hofft.

Von Christoph Gurk

Es war der große Geist, der sie einst hierherführte, davon ist Ivanice Tanoné Kariri-Xocó überzeugt. Damals war sie noch eine junge Frau und keine Großmutter, so wie jetzt. Lange ist das her, doch Tanoné ist nie gegangen, auch dann nicht, als die Bagger und die Bauarbeiter kamen.

Es ist früher Vormittag und Ivanice Tanoné sitzt im Versammlungshaus ihres Dorfes, eine runde Hütte aus Baumstämmen, das Dach gedeckt mit Palmwedeln. Ein gutes Dutzend Familien leben mit Tanoné in ihrem Dorf, 69 Menschen, Ivanice Tanoné ist ihre Anführerin. Kariri-Xocó, so ist der Name ihres Stammes, Tanoné hat ihn sogar in ihre Tabakpfeife geschnitzt. Sie hat sie selbst gemacht, genauso wie sie auch den Tabak selbst angepflanzt hat. "Der große Geist gibt uns alles, was wir brauchen", sagt sie. Allein der Mensch, er ist unersättlich und will immer mehr.

Wer daran zweifelt, der muss nur über die Baumwipfel blicken. Dort drehen sich Baukräne im Wind. Nur ein paar hundert Meter von Ivanice Tanonés Dorf entfernt, entsteht auf einer riesigen Baustelle ein komplett neues Viertel für Brasília, Brasiliens Hauptstadt. Vor knapp 60 Jahren gebaut mitten ins Nichts, leben heute drei Millionen Menschen hier, die Stadt wächst und wächst. Ist da noch Platz für Menschen wie Ivanice Tanoné?

Ihr Stamm kommt eigentlich aus dem Norden von Brasilien, 2000 Kilometer weit entfernt. Dort ist auch Tanoné geboren und aufgewachsen, doch dann befiel der Krebs ihr Bein. "Schau", sagt sie und hebt den Rock, "hier sieht man noch die Narbe". In ihrer Heimat gab es keine Ärzte, also kamen sie und ihr Mann nach Brasília. Tatsächlich, sie wurde wieder gesund, dank der Ärzte und dank des großen Geistes, sagt Tanoné. In ihre Heimat allerdings kehrte sie nicht zurück. "Dort gab es keine Arbeit, keine Zukunft", sagt sie. Sie und ihr Mann fanden ein kleines Stückchen Wald, etwas außerhalb der Stadt. Das Land gehörte dem Staat. "Aber der hatte es ja auch nur genommen, von Menschen wie uns", sagt Tanoné.

Sie bauten sich eine Hütte und pflanzten Obstbäume. Dann holten sie ihre Kinder und Tanonés Mutter nach, drei Generationen, aus denen bald vier wurden, weil die Kinder selbst heirateten und Kinder bekamen. Tanoné ist längst Urgroßmutter, und in dem Waldstück ist ein kleines Dorf entstanden, sogar ein Gebetshaus haben sie gebaut, für den großen Geist. Doch nun sollen sie wieder weg.

Was hier, am Rande von Brasiliens Hauptstadt, geschieht, wiederholt sich jeden Tag hundertfach im ganzen Land. Etwa eine Million Menschen stammen in Brasilien heute von traditionellen Gemeinschaften ab. Manche Stämme haben Zehntausende Angehörige, andere nur ein Dutzend, manche leben in der sogenannten Zivilisation, viele aber auch als Bauern und in Reservaten. Dabei wird ihr Lebensraum zunehmend bedroht, von Holzfällern und Goldsuchern. Viehzüchter wollen ihre Rinder auf ihrer Erde grasen lassen, Bergbauunternehmen an die Reichtümer, die unter ihr liegen. Und dabei schrecken sie oft auch nicht vor Mord zurück. 2018 sollen über 130 Indigene umgebracht worden sein, fast ein Viertel mehr, als noch im Jahr davor, sagt der brasilianische Missionsrat für Indigene. Und erst Anfang November wurde in Brasilien wieder ein indigener Umweltschützer umgebracht. Die Täter? Vermutlich illegale Holzfäller.

Seit die Regierung von Jair Bolsonaro an der Macht ist, hat sich die Lage noch mal verschlimmert. Es gäbe zwar Gesetze, um die Indigenen und ihr Land zu schützen, doch der zuständigen Behörde FUNAI wurden die Mittel drastisch zusammengestrichen und Kompetenzen weggenommen. Für Bolsonaro und viele seiner Anhänger sind Indianer ein Hindernis bei der Entwicklung ihres Landes und seiner Wirtschaft. Wofür, fragen sie, brauchen ein paar wenige Menschen so viel Land? Wieso sollte man es nur zum Jagen, Fischen oder dem Anbau von Mais und Früchten benutzen, wenn man das Land so viel besser nutzen könnte? Als Rinderweide, als Acker für Soja - oder auch als Wohnviertel mit Luxusapartments.

2008 verkaufte die Regierung das Land, auf dem Ivanice Tanoné und ihre Familie lebt, an eine Immobilienfirma. Ein paar Mal versuchte diese mit der Hilfe der Polizei das Dorf zu räumen, um Platz zu machen. Ohne Erfolg. "Wir haben uns gewehrt", sagt Tanoné. "Siehst du das Haus da hinten? Mit meinem Bogen kann ich ganz leicht so weit schießen". 2011 wurde den Kariri-Xocó dann ein neues Areal versprochen, 11 Hektar, ein paar Kilometer weit entfernt, mit neuen Häusern und auch einer Versammlungshütte. Allein: Das Versprechen wurde nicht gehalten. Ivanice Tanoné und ihr Stamm blieben, während die Bagger immer näher rückten.

Nun haben sie abermals Land versprochen bekommen. Tanoné hat vor Kurzem sogar einen Vertrag unterschrieben, und es gibt auch schon einen Plan, wie ihr neues Dorf aussehen soll, 16 Hütten, in der Mitte ein Platz. Tanoné zeigt Fotos auf ihrem Handy, schön sehen die Pläne aus, sagt sie. Mal sehen, ob es diesmal klappt, die Zeiten sind ungewiss, und immerhin hat Brasiliens Präsident im Wahlkampf noch gesagt, unter seiner Regierung würden die Indianer keinen Zentimeter mehr Land bekommen. "Ich glaube, dass der Mann von einem bösen Geist besessen ist", sagt Tanoné und dass sie ihm helfen könnte. Weit hätte es Bolsonaro nicht: Vom Nationalkongress zur Hütte sind es nur elf Kilometer.

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Quelle:
SZ vom 25.11.2019
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