Brasilien:Der Sandmann von Rio de Janeiro

Brasilien: Auch ein Geschäftsmodell: Für einen kleinen Obolus lässt sich Burg-Bewohner Mizael Matolas immer gerne fotografieren.

Auch ein Geschäftsmodell: Für einen kleinen Obolus lässt sich Burg-Bewohner Mizael Matolas immer gerne fotografieren.

(Foto: Evgeny Makarov)

Jesus warnte die Menschen davor, ihre Häuser auf Sand zu bauen, weil sie weggespült werden könnten. Márcio Mizael Matolas lebt in einer Sandburg - und Wasser ist nicht das Problem.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Wenn Márcio Mizael Matolas sein Schloss verlässt, setzt er seine Krone auf. Damit alle sehen können, wer hier wohnt: der Strandkönig. Sein Zepter hat sich Márcio Mizael Matolas, 44, aus einem Bambusstock und einer Plastikkugel gebastelt, seinen Thron nagelte er aus Brettern zusammen, die der Atlantik anschwemmte. Der Holzthron passt aber nicht ins Schloss hinein und steht deshalb draußen. Dort sitzt der Hausherr Tag für Tag, oberkörperfrei, barfuß, etwas zu tief hängende Badeshorts, und wartet auf Kundschaft.

Wenn die Sonne zu lange scheint, kippt er eimerweise Wasser auf die Burg

Matolas ist einer, der, wenn man so will, seine Unabhängigkeit auf beispiellose Weise zelebriert. Er lebt dauerhaft, alleinstehend und dem Vernehmen nach glücklich in einer Sandburg am Pepê-Strand von Rio de Janeiro. Sein Job: selbständiges Fotomotiv, der König vor seiner Residenz. Neben dem Thron steht eine Spendenbox.

Am Vorabend ist es ein bisschen später geworden, Matolas gähnt, und dabei ist unübersehbar, dass Seine Majestät schon seit Jahren, vielleicht auch Jahrzehnten nicht mehr beim Zahnarzt war. Er hat Kopfschmerzen, die erbarmungslose brasilianische Sommersonne scheint ihm ins Gesicht, am liebsten würde er sich noch einmal in seinen Bau verkriechen. Aber die Pflicht ruft. Die ersten Passanten haben bereits ihre Smartphones auf ihn gerichtet. Eine Frau setzt ihm ihr Kind auf den Schoß, der Papa und der Hund sollen auch noch mit aufs Bild. Alle mal lächeln! Das Zepter ein bisschen höher! "Ist harte Arbeit, so ein Königsleben", zischt Matolas durch seine Zahnlücken hindurch. Die Frau steckt fünf Reais in die Box, etwa 1,20 Euro. Das, was am Ende eines Arbeitstages zusammenkommt, reicht Matolas. Er sagt: "Ich hab' mir hier was aufgebaut."

Was er sich gebaut hat, besteht ausschließlich aus Sand und Wasser. Von außen sieht es aus wie ein Märchenschloss, verziert mit Zwiebeltürmchen, Zinnen, Erkern und Brustwehren. Das Untergeschoss ist mit Brettern und Sandsäcken abgestützt, als Eingangstür dient ein zerfleddertes T-Shirt. Fenster gibt es keine, durchlüftet ist der Wohnbereich eher nicht. Aber der Platz reicht aus, um ausgestreckt schlafen zu können. Und für ein Bücherregal, das die Hinterwand einnimmt. Matolas ist nicht nur ein fotogener, sondern auch belesener König. Dostojewski steht neben der Mao-Bibel und den Werken des brasilianischen Schriftstellers Jorge Amado. "Alles, was ich besitze, sind meine Bücher und die Freiheit, sie lesen zu können, wann ich will", sagt er. Handy? Fernseher? Wechselklamotten? Hat er nicht, braucht er nicht. "Ich hab' meinen Palast mit Meerblick."

Der Pepê-Strand liegt in Rios Vorort Barra da Tijuca. Die Apartment-Blöcke auf der anderen Straßenseite gehören zu den teuersten Wohnlagen der Stadt. Matolas sagt: "Meine Nachbarn geben an einem Tag mehr Geld aus als ich im ganzen Jahr." Trotzdem hat er das Gefühl, dass viele auf sein Leben neidisch sind. "Warum würden sie mich sonst fotografieren?"

Márcio Mizael Matolas lebt seit dreieinhalb Jahrzehnten auf der Straße, beziehungsweise: auf Sand. Sein Vater starb eine Woche vor seiner Geburt, er hatte Streit mit einem guten Bekannten, dabei fielen Schüsse. Schon als Achtjähriger musste er Geld verdienen, er verkaufte gebrauchte Bücher und Hefte im Mittelklassebezirk Flamengo. Damals konnte er noch kein Wort lesen. Einmal zeigte ihm am Strand von Flamengo jemand, wie man eine Sandpyramide baut. Damit fing alles an.

Renovieren muss er ständig

Matolas lernte, Meerjungfrauen, Walfische und Krokodile aus Sand zu basteln. Später spezialisierte er sich auf kleine Paläste im Stil der Inka, der Maya, der Azteken. Er ging an den Strand von Copacabana, wo alle paar Meter ein professioneller Sandburgenbauer für Touristen posiert. Auf die Idee, die Burg so groß zu bauen, dass man einziehen kann, ist vor ihm aber offenbar niemand gekommen."Sollte ich mir rasch patentieren lassen", sagt er.

Matolas lebt jetzt seit 22 Jahren am Praia do Pepê, an der Copacabana war es ihm zu stressig (zu viele Touristen, zu viel Arbeit), und bislang hat niemand sein Wohnkonzept kopiert. Er haust nicht mehr in seiner ersten Burg, renovieren muss er ohnehin ständig, aber hin und wieder ist auch mal ein Neubau fällig. Witterungsbedingt. In der Bergpredigt warnte Jesus die Menschen davor, ihre Häuser auf Sand zu errichten, denn sie würden vom Wasser hinweggespült - klar, es handelt sich um ein Gleichnis, aber viel Ahnung vom Sandburgbau kann der Redner nicht gehabt haben, meint Matolas. Das Problem sei nicht das Wasser, sondern die Sonne. Nach Regenschauern muss er seine Türmchen und Zinnen ein wenig nachformen. Wenn es aber tagelang nicht regnet und alles austrocknet, kippt er eimerweise Wasser auf seine Burg, sonst fällt die Konstruktion in sich zusammen.

Zwei Jahre lang lebte Matolas in einer Beziehung. Dann ließ ihn die Frau sitzen, sie kam mit seinem Lebensstil nicht zurecht. Seine Familie, das sind inzwischen die anderen Dauergäste am Strand: der Wirt vom Kiosk, der ihm ab und zu eine Büchse Bier schenkt. Die Frau vom Toiletten-Häuschen, die ihn kostenlos duschen lässt. Die Jungs vom Futevôlei-Feld (Beachvolleyball mit Füßen), die ihn jeden Nachmittag zum Spiel auffordern. Matolas humpelt stark, seit er von einem Omnibus angefahren wurde. Trotzdem ist er ein begnadeter Ballkünstler.

Er hat auch so einen Spitznamen, der nach brasilianischem Fußballgott klingt. Die Mitspieler nennen ihn Castelinho: "Schlösschen".

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