Brasilien:Aufstand der Verdammten

Brasilien: Rettungskräfte bergen einen Gefangenen, der während eines Aufstandes im Gefängnis Alcaçuz verletzte wurde.

Rettungskräfte bergen einen Gefangenen, der während eines Aufstandes im Gefängnis Alcaçuz verletzte wurde.

(Foto: Felipe Dana/AP)

Morde, Vergewaltigungen, mafiöse Strukturen: In Brasiliens Gefängnissen herrschen entsetzliche Zustände. Kein Wunder, dass die meisten Häftlinge bei der Entlassung krimineller sind als zuvor.

Von Boris Herrmann

Wenn man in Brasilien über offizielle Kanäle einen Gefängnisbesuch anfragt, dann wird man in eine saubere und gepflegte Anstalt geführt, in der verurteilte Straftäter gemeinsam Brot backen, musizieren und Kräutergärtchen pflegen. Auch so etwas gibt es im Land des vermutlich perversesten Strafvollzugssystems der westlichen Welt. Diese alternativen Haftanstalten werden von einem kirchlichen Träger betrieben, der sich Assoçiação de Proteção e Assistência aos Condenados (Vereinigung zum Schutz und zur Hilfe von Gefangenen), kurz APAC, nennt.

Das Modellprojekt ist auf Resozialisierung und Selbstverantwortung angelegt. Die Eingangspforte wird von den Häftlingen selbst kontrolliert. Naheliegende Frage: Warum hauen die nicht einfach ab? Die Antwort steht auf einem großen Schild, das im Speisesaal eines APAC-Gefängnisses in der Nähe von Belo Horizonte hängt: "Vergesst nie, wo ihr wärt, wenn es APAC nicht gäbe!"

Jeder der Insassen hier hat schon ein paar Jahre im herkömmlichen Strafvollzug hinter sich. Einer sagt: "Das ist wie der Unterschied zwischen Himmel und Hölle." Und alle wissen: Türmen lohnt sich nicht, weil viel zu viel auf dem Spiel steht. Schon wer im APAC zehn Disziplin-Minuspunkte angesammelt hat (für einmal den Teller nicht abgeräumt, gibt es zum Beispiel einen Punkt) wandert zurück in die Hölle.

Die Sache ist: Der Himmel ist nur für einen verschwindend geringen Prozentsatz der brasilianischen Häftlinge offen. Die APACs sind die absolute Ausnahme, ein Feigenblatt, eine Scheinwelt. Alles, was man dort über die Realität erfahren kann, ist: Wie es wohl wäre, wenn der brasilianische Staat seine eigenen Strafvollzugsgesetze befolgen würde.

Menschen werden wie Tiere gehalten

Um zu wissen, wie die Wirklichkeit (also die Hölle) aussieht, muss man ein herkömmliches Gefängnis betreten haben. Zum Beispiel das 80 Jahre alte "José Maria Alkmin", ebenfalls in der Nähe von Belo Horizonte. Dort werden Menschen wie Tiere gehalten, zu dritt in verdreckten Zellen von sechs Quadratmetern. Es gibt immer wieder verdorbenes Essen, fauliges Wasser und höchstens zwei Stunden Sonnenlicht pro Tag. Und das ist die Regel, nicht die Ausnahme.

Brasiliens Gefängnisse sind heillos überbelegt. 622 000 Häftlinge teilen sich derzeit knapp 400 000 verfügbare Plätze. Rund 40 Prozent der Insassen sind noch nicht einmal verurteilt, sie warten auf ihren Prozess oder wurden einfach vergessen. Von Resozialisierung kann hier kein Rede sein. Die meisten kommen krimineller raus als sie reingehen, weil nicht der Staat die Kontrolle hat, sondern die großen Drogenkartelle. Es sind Schulen des Verbrechens.

Unter diesen Bedingungen muss man sich nicht wundern, dass es immer wieder zu Massakern zwischen Anhängern verfeindeter Banden kommt. Mindestens 138 Häftlinge wurden in diesem Jahr in verschiedenen brasilianischen Gefängnissen schon ermordet, hingerichtet, geköpft, zerstückelt. Viele Brasilianer, die diese Horrorshow im Fernsehen verfolgen, fragen sich: "Wie können diese Monster so etwas tun?" Der Menschenrechtsanwalt Greg Andrade, der selbst viele Jahre im José-Maria-Alkmin-Gefängnis eingesperrt war, stellt die Gegenfrage: "Was ist das für eine Gesellschaft, die solche Monster produziert?"

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