Süddeutsche Zeitung

Brasilien:Streit um das Grab des einsamsten Menschen der Welt

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Der Stamm der Tanaru wurde im brasilianischen Regenwald von Viehzüchtern ausgelöscht, nur ein Mann überlebte. Er verbrachte Jahrzehnte in völliger Einsamkeit, bis er im August starb. Doch auch nach seinem Tod lassen ihm die Widersacher keine Ruhe.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

In einem Waldstück tief im Herzen von Südamerika trafen sich vor ein paar Tagen ein gutes Dutzend Männer, um einen unbekannten und dennoch berühmt gewordenen Toten zu begraben. Sie kannten weder seine Götter, noch sprachen sie seine Sprache. Sie wussten nicht seinen Namen noch den seines Volkes. "Der letzte Tanaru", so wurde er genannt, der Letzte seines Stammes. Einsam hatte er gelebt, fast drei Jahrzehnte lang, und einsam war er gestorben, in seiner Hängematte, den Körper bedeckt mit Federn. Er hatte wohl gewusst, dass sein Ende naht.

Nun entzündeten die Männer ein Feuer in der kleinen Hütte, gebaut aus Ästen und Blättern. Sie verbrannten sein Werkzeug, weil das so Sitte ist bei den Stämmen, die in der Umgebung leben. Dann bedeckten sie den Leichnam mit Bananenblättern und legten ihn in eine der Gruben, die der Mann stets gegraben hatte an den Orten, an denen er sich niederließ. Welchen Zweck sie hatten, wird man wohl nie herausfinden, es ist eines der vielen Geheimnisse, die der " indio do buraco", der Indianer mit der Grube, mit ins Grab nimmt.

Er liegt nun unter der roten Erde jenes Waldes, in dem er stets gelebt hat. Ob er dort in Frieden ruhen wird, ist allerdings ungewiss. Denn die Beerdigung des letzten Tanaru ist ein weiteres tragisches Kapitel in einer ohnehin schon tieftraurigen Geschichte.

Ein Schutzgebiet, groß wie der Chiemsee - mit einem einzigen Einwohner

So, wie wir sie kennen, beginnt sie Mitte der 90er-Jahre. Mitarbeiter der brasilianischen Indigenen-Behörde Fundação Nacional do Índio, kurz Funai, hörten damals Gerüchte vom letzten Angehörigen eines Stammes, dessen übrige Mitglieder ermordet worden waren von Holzfällern oder Viehzüchtern. Immer tiefer drangen diese vor in den Wald, immer weiter zog der Mann sich darum zurück. Mitarbeiter der Funai versuchten, in Kontakt mit ihm zu treten, ohne Erfolg. Sie brachten Samen, Werkzeuge und Essen als Geschenk, doch der Mann versteckte sich, einmal schoss er sogar einen Pfeil ab, es gab einen Verletzten. Von da an ließ man den indio do buraco in Ruhe und unternahm nur sporadische Expeditionen, um sicherzugehen, dass er noch am Leben ist. Dann aber, Ende August, fand man seine Leiche, und nun ist die Frage, was nach dem Ableben des letzten Tanaru mit dem Wald geschieht, in dem er sein ganzes Leben verbrachte.

2006 war er unter temporären Schutz gestellt worden. Wegen der Präsenz eines Angehörigen eines isolierten indigenen Volkes schuf die Funai damals die Terra Indígena Tanaru, fast so groß wie der Chiemsee, mit einer Bevölkerung von genau einer Person.

Doch Rondônia, wo das Schutzgebiet liegt, ist einer der brasilianischen Bundesstaaten, in denen am meisten Amazonas-Wald abgeholzt wird. Wo einst Urwaldriesen standen, grasen heute Rinder, wo noch vor ein paar Jahrzehnten Laub die rote Erde bedeckte, wachsen Soja oder Mais. Aus der Terra Indígena Tanaru wurde mehr und mehr eine Insel, 8000 Hektar fast unberührter Wald inmitten von endlosen Weiden und Feldern.

Immer wieder wurde versucht, die Terra Indígena Tanaru in ein dauerhaftes Schutzgebiet umzuwandeln. Ohne Erfolg. 2019 trat dann auch noch Jair Bolsonaro sein Präsidentenamt an. "Ich werde keinen weiteren Quadratzentimeter Land mehr an Indigene ausweisen", hatte der rechte Politiker schon im Wahlkampf gesagt, und dieses Versprechen hielt er ein. Unter seiner Regierung stiegen die Abholzungszahlen im Amazonas sprunghaft an, Umweltschutzbehörden wurden mit Budget- und Personalkürzungen gezielt geschwächt, und an die Spitze der Funai setzte Bolsonaro keinen Indigenen-Experten, sondern Marcelo Augusto Xavier da Silva, einen ehemaligen Mitarbeiter der Bundespolizei mit besten Verbindungen zur Agrarlobby. Diese jubelte, Menschenrechtsaktivisten waren entsetzt. Mitarbeiter der Indigenenbehörde streikten immer wieder, einmal musste ihr neuer Chef sogar von einem Kongress fliehen, weil Teilnehmer ihn als Kriminellen und Banditen beschimpften.

Nachdem man im August den leblosen Körper des letzten Tanaru gefunden hatte, wurde dieser in die Hauptstadt Brasília geflogen. Man wollte die Todesursache feststellen, aber auch Proben entnehmen. Vielleicht, so die Hoffnung, könnte man nach dem Tod wenigstens einige der Geheimnisse lüften, die den Mann zu Lebzeiten umgaben, wie alt er war zum Beispiel oder welchem Volk er genetisch angehörte. Die Leiche aber, das war auch klar, sollte dort begraben werden, wo der letzte Tanaru gelebt hatte, in seiner Hütte tief im Wald. Geplant war die Beisetzung für Mitte Oktober, doch dann, am Vorabend der Beerdigung, ließ Marcelo Augusto Xavier da Silva sie kurzfristig stoppen.

Ohne Indigene kein Indigenenschutzgebiet

Als Grund gab er an, dass nicht alle Untersuchungen abgeschlossen seien. Das wiederum löste Verwunderung aus, sagten die beteiligten Forscher doch, dass längst alle Proben entnommen worden seien und der Leichnam selbst nicht mehr gebraucht würde. So kam bald der Verdacht auf, in Wahrheit habe der Bolsonaro-treue Leiter der Indigenenschutzbehörde auf Druck der Agrarlobby gehandelt. Denn schon kurz nach dem Tod des letzten Tanaru hatten erste Großgrundbesitzer aus der Umgebung beantragt, der Terra Indígena Tanaru ihren Status zu entziehen. Ohne Indigene auch kein Indigenenschutzgebiet, so die Begründung, doch selbst ein toter Indigener hätte das Potenzial, diese Argumentation zu stören, darum wollte man die Beerdigung wohl unbedingt verhindern.

Am Ende musste dann die Bundesstaatsanwaltschaft eingreifen. Der letzte Tanaru habe zu Lebzeiten schwere Verbrechen erlitten, erklärte sie in ihrem Klageschreiben: "Es ist darum nicht hinnehmbar, dass er nun, im Tod, weiterhin Opfer der Missachtung eines der grundlegendsten Rechte eines jeden Menschen ist, nämlich der Achtung seines Leichnams und seines Andenkens." Ein Gericht gab der Klage statt und ordnete die Beerdigung an. So wurde der indio do buraco am 4. November beigesetzt, in seiner Hütte im Wald.

Wie es weitergeht, ist dennoch unsicher. Am 1. Januar tritt eine neue linke Regierung in Brasilien ihr Amt an. Der gewählte Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat schon versprochen, dass er den Schutz von Umwelt und indigenen Völkern wieder stärken will. Im Falle des letzten Tanaru kommt diese Hilfe zwar zu spät, Aktivisten aber sagen, dass man zu seinen Ehren die Terra Indígena Tanaru zum uneingeschränkten Schutzgebiet erklären sollte. Sollte dies nicht geschehen, würde ihr Status spätestens 2025 auslaufen. Dann würde der Lebensraum des letzten Tanaru wohl für immer verschwinden.

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