Brandenburg:Versteckt von der eigenen Familie

Jahrelang soll eine 13-Jährige in der Uckermark in ihrem Elternhaus isoliert worden sein - und das Jugendamt wusste davon.

J. Boie und M. Rolff

Es ist einer dieser Fälle, bei denen es später heißt, er hätte eigentlich nie passieren dürfen. Weil man doch wusste, was los war, weil man doch hätte handeln müssen: Die 13-jährige Jennifer trug Windeln und zeigte autistische Verhaltensmerkmale, als die Ermittler von Polizei und Jugendamt sie am 15. Juli aus dem Haus ihrer Eltern im brandenburgischen Lübbenow befreiten.

Brandenburg: In diesem Haus soll das Mädchen isoliert worden sein.

In diesem Haus soll das Mädchen isoliert worden sein.

(Foto: Foto: dpa)

Den Zustand des geistig und körperlich behinderten Mädchens bezeichnet die Staatsanwaltschaft Neuruppin als "verwahrlost". Neun Jahre lang, seit die Familie aus Berlin in das schmucklose Haus an den Rand des Dorfes in der Uckermark gezogen war, hatten die Eltern Jennifer versteckt gehalten, offenbar aus Scham.

Drittes Kind unbekannt

Das Mädchen hat noch nie eine Schule besucht. Nachbarn ließen sich mit den Worten zitieren, sie hätten nicht gewusst, dass das Paar, gegen das wegen Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht sowie wegen Misshandlung Schutzbefohlener ermittelt wird, überhaupt ein drittes Kind habe. Aufmerksam geworden sein will das Jugendamt in Prenzlau erst durch den Hinweis eines Nachbarn Mitte Juli. Das aber soll nicht stimmen. Vielmehr war der Fall offenbar seit Jahren bekannt.

Die zuständigen Behörden schienen sich am Mittwoch plötzlich mit Vorwürfen an das Jugendamt gegenseitig übertrumpfen zu wollen. Der Gemeindeverwaltung sei schon vor vier Jahren aufgefallen, dass ein Mädchen aus der Familie nicht eingeschult wurde; das Jugendamt sei deshalb auch informiert worden, erklärte Uckerlands Bürgermeisterin, Christine Wernicke.

Schweres Fehlverhalten

Landrat Klemens Schmitz sprach sogar von einem "schweren Fehlverhalten innerhalb des Jugendamtes". Die Situation sei seit 2006 bekanntgewesen, sagte Schmitz dem Sender rbb-TV. Er wolle nun Untersuchungen einleiten. Zudem wolle er die Abstimmung zwischen Schulamt, Einwohnermeldeamt und Gesundheitsamt verbessern. Ermittelt wird gegen das Jugendamt derzeit noch nicht, sagte der Neuruppiner Oberstaatsanwalt Jürgen Schiermeyer der SZ, dafür gebe es nicht genügend Erkenntnisse. Man müsse prüfen, "welche Wege verfolgt und eingehalten worden seien".

Das 13-jährige Mädchen befindet sich seit Mitte Juli in einem Krankenhaus. Man wolle feststellen, ob ihre Beeinträchtigungen auch von einer möglichen Misshandlung durch die Eltern herrühren könnten oder ob die Behinderungen durch die Isolation verstärkt worden seien, sagte Schiermeyer. Anzeichen für Gewalt gebe es nach ersten Erkenntnissen nicht. Auch die beiden Geschwister von Jennifer, die ordnungsgemäß die Schule besuchen, zeigen keine Auffälligkeiten.

Das Jugendamt Uckermark selbst räumte am Mittwoch "große Versäumnisse" ein. Es sei richtig, dass der Fall seit mehr als drei Jahren bekannt war, "wir prüfen derzeit intern, wie das passieren konnte", sagte Ramona Fischer, Sprecherin der Kreisverwaltung Uckerland, der SZ. Zu den Ursachen könne man noch keine Auskunft geben. Fischer machte geltend, dass das Amt Mitte Juli prompt reagiert und die 13-Jährige nach den ersten Vorwürfen "sofort" aus der Familie genommen habe.

Beratungen über Zukunft

Über die Zukunft von Jennifer und ihrer beiden Geschwister werde noch beraten, die Familie intensiv betreut. Nach Einschätzung einiger Mitarbeiter bestehe kein Grund, die gesunden Geschwister aus der Familie zu nehmen, sagte Fischer. Doch sei es ein Rätsel, warum die Nachbarn in dem 350-Einwohner-Dorf nicht früher tätig geworden seien. Die Familie soll laut Zeugen weitgehend abgeschottet gelebt und Sozialkontakte zu den Kindern unterbunden haben.

Brandenburgs Bildungsminister Holger Rupprecht sucht nach Erklärungen, warum den Behörden nicht aufgefallen sei, dass Jennifer keine Schule besuchte. Möglicherweise liege das daran, dass die Grundschulverordnung des Landes erst 2005 verschärft worden sei. Seither müssen Eltern mit ihrem Kind zur Schulanmeldung erscheinen. Andernfalls würden sie angeschrieben. Reagierten sie nicht, müssten die Behörden das Jugendamt alarmieren. Die Verordnung war verschärft worden, nachdem 2004 in Cottbus ein verhungerter Sechsjähriger in einer Kühltruhe der Eltern gefunden worden war. Zur Schuleingangsuntersuchung war er nie erschienen. Die Behörden hatten Ausflüchten seiner Mutter geglaubt.

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