Buch über Boris Johnson:Nicht ohne meinen Bruder

Rachel Johnson, die Schwester des britischen Premiers, hat ein Buch über ihre Familie geschrieben. Sie steht ihm in Sachen Showtalent in nichts nach.

Von Cathrin Kahlweit, London

"The Rake's Progress" ist eine Oper von Igor Strawinski, die wiederum angelehnt ist an eine Serie von Kupferstichen von William Hogarth aus dem 17. Jahrhundert - und egal, an welchen der beiden Künstler Rachel Johnson dachte, als sie auch ihrem Buch den Titel "Rake's Progress" gab: In jedem Fall ist es ein Wüstling, ein zu Extravaganzen und Ausschweifungen neigender Lebemann, auf den sie anspielt. Gemeint ist, natürlich, ihr Bruder: Boris Johnson. Der Titel samt Untertitel ("Meine politische Midlife-Crisis") ist wie ihr Bruder, ja wie die ganze Familie Johnson: selbstironisch, elitär und eitel-verspielt zugleich.

Boris Johnson ist seit einem Dreivierteljahr britischer Premierminister - eine Berufung, auf die er, wenn man seiner Schwester Rachel glaubt, quasi seit Geburt hingearbeitet und die er nur für eine Frage der Zeit gehalten hat. Den Erfolg habe er jedoch letztlich dem Konkurrenzdenken unter den vier Geschwistern zu verdanken, betont Rachel Johnson, die derzeit höchst geschäftstüchtig den gestiegenen Marktwert der Familie in TV-Sendungen und Zeitungsinterviews nutzt: Hätte er sich nicht ständig mit ihr messen müssen, "dann hätte er nicht seine männliche Überlegenheit über mich, seine Geschwister, seine Partei und das Land beweisen müssen". Die selbstbewusste Schwester spitzt das Ganze in einer Talkshow so zu: "Wäre ich nicht geboren, wäre er nicht Premierminister."

Boris Johnson, derzeit weit weniger als geplant mit dem Brexit, dafür aber umso mehr mit der Corona-Pandemie beschäftigt, dürfte das vermutlich anders sehen. Aber darum geht es Rachel Johnson, die ihrem Bruder in puncto Showtalent kaum nachsteht, auch nicht: Sie preist ihn, weil Familienloyalität bei den Johnsons, allen politischen Differenzen zum Trotz, über alles geht. Aber sie will auch schon für die Zeit nach Boris vorsorgen, wenn "wir alle unser Leben zurückkriegen". Dann spätestens, dürfte ihre Rechnung lauten, wird eine gewisse Distanzierung vom so populären wie umstrittenen Brexit-Premier sich auszahlen.

Ein Land so einen wie eine zerstrittene Familie

Rachel ist Journalistin, Moderatorin, Buchautorin und war Kurzzeit-Politikerin bei der Anti-Brexit-Partei Change UK, nachdem sie zuvor bei den Liberaldemokraten und davor bei den Konservativen mitgemacht hatte. Wie Bruder Jo, der zeitweilig Staatssekretär im Bildungsministerium war und seinen Posten im Streit mit dem Bruder niederlegte, hatte sie sich immer gegen den EU-Austritt des Landes ausgesprochen.

Ihr Buch liest sich wie eine Autobiografie mit Anspruch auf Fortsetzung. Sie erklärt darin, es sei ihr Traum zu zeigen, dass es möglich sein müsse, das Land so zu einen, wie es auch möglich sei, eine politisch zerstrittene Familie zu einen. Nur um dann ausführlich zu berichten, wie schockiert ihr Umfeld auf ihren Bruder als neuen Tory-Chef reagiert habe, und sich vorzustellen, was eine Ära Johnson bedeuten könnte: für ihn selbst im schlimmsten Fall eine frühe Abwahl, im besten Fall einen Nachruhm als neuer Churchill. Für das Land im schlechtesten Fall No Deal, eine verrottende Ernte auf den Feldern und soziale Unruhen auf den Straßen. Und im besten Fall ein Glück: Die Corona-Krise manage er, findet seine Schwester, ganz hervorragend.

Aber letztlich interessiert sich Rachel Johnson nicht sonderlich für Politik und weit mehr für ihre Familie, die unentwegt Witze auf Kosten anderer reißt und das Leben eines privilegierten Clans als Teil der britischen Elite aus vollen Herzen genießt. Überall werde sie dafür beglückwünscht, dass ihr Bruder nun so ein hohes Tier sei, schreibt sie. Es fühle sich an, als bekomme man einen Oscar für einen Film, den man gar nicht gedreht habe. Und als müsse man dann bei der Verleihung der Academy Awards trotzdem die richtigen Worte finden.

Rachel Johnson hat immerhin 272 Seiten gefüllt, so schwer kann das also nicht gewesen sein. Marina Hyde, eine der populärsten Kolumnistinnen des Landes, schreibt, wer "Rake's Progress" lese, fühle sich wie auf einer wunderbaren Tratsch- und Lästerparty. Die unterhaltsame Lektüre habe allerdings den Vorteil, dass man all die schrecklichen Menschen, über die dort gesprochen werde, nicht persönlich erleben müsse.

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