Süddeutsche Zeitung

Bonnland:Ewiger Frieden am Schießplatz

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Wenn Anneliese Rettinger das Grab ihres Sohnes besuchen möchte, muss sie bei der Bundeswehr anfragen - der Friedhof liegt auf einem Truppenübungsplatz. Nur einmal im Jahr dürfen die ehemaligen Bewohner zum "Bonnlandfest" ihr Dorf besuchen.

F. Mader

Das Dorf, das Google Maps nicht findet, liegt 25 Kilometer Luftlinie westlich von Schweinfurt, ganz im Nordwesten Bayerns. Es gibt hier eine Schule, in der seit 45 Jahren kein Schüler mehr gelernt hat. Dennoch wirkt der Schriftzug "Pestalozzi-Schule" so, als sei er erst seit kurzem angebracht. Daneben steht die Kirche, mit einem Kirchturm in bestem Zustand. Die Glocken läuten dennoch nie. Oberhalb der Schule liegt der Friedhof. Auf den Gräbern blühen frische Friedhofsblumen in Gelb und Lila, auf den Wegen liegt kaum Laub. Man würde es nicht denken: Auf dem Friedhof von Bonnland wurde seit 45 Jahren kein Mensch mehr begraben.

Anneliese Rettinger kam 1946 mit zehn Jahren nach Bonnland. "Dort haben wir gewohnt", sagt die 74-Jährige und zeigt auf ein kleines Fachwerkhäuschen. 1965 wurden sie und 560 andere Bewohner "abgesiedelt", wie es im Bundeswehrjargon heißt. Die komplette Gegend wurde zum militärischen Übungsgebiet.

Bevor die Bundeswehr heute Soldaten nach Afghanistan schickt, lässt sie sie hier auf Zielscheiben in Häuserfenstern schießen und mit dem Panzer in hohem Tempo durch das Dorf fahren. Sperrgebiete bei den Übungen sind Kirche und Friedhof, denn dort liegen immer noch die Angehörigen der früheren Dorfbewohner. Anneliese Rettinger hat hier ihr erstes Kind begraben. Nur unter Schwierigkeiten kann sie das Grab besuchen.

Sie und ihr Mann, den sie nun um 20 Jahre überlebt hat, sind als eine der ersten Bauernfamilien hier weggegangen. Seit 1956 machte die Bundeswehr den Bewohnern Angebote, die zum Wegzug animieren sollten. Anneliese Rettinger und ihr Mann bekamen ein zinsloses Darlehen, mit dem sie einen Hof in Werneck, einem Markt zwischen Würzburg und Schweinfurt gar nicht weit von Bonnland entfernt, finanzierten.

Auf einer Anhöhe über dem Ort steht ein Schloss mit Fachwerk-Giebeln und einem Wehrturm, 60 Stufen geht es hinauf. Die 74-Jährige geht voran. "Wir waren oft hier oben. Man hat wirklich einen schönen Ausblick." Schiller war oft hier gewesen. Der Hausherr Heinrich Adalbert von Gleichen-Rußwurm war sein Patensohn, auf einem Ball von Alexander von Humboldt um die Hand von Schillers Tochter Emilie angehalten. Ihr Enkel war der letzte direkte Nachkomme von Friedrich Schiller. Nur unter Protest zog er 1938 nach Baden-Baden um, als die Nationalsozialisten Bonnland erstmals dem Nutzen des Militärs übertrugen.

Denn die militärische Karriere des Ortes hat schon vor dem Zweiten Weltkrieg begonnen: Hitler ließ seine Verbände in dem Dörfchen den Angriff auf Polen trainieren. Bis zu fünf Bataillone waren im nahegelegenen Stützpunkt Hammelburg stationiert und kamen nach Bonnland, um vor allem das Einnehmen einer Ortschaft zu üben. Nach dem Krieg standen rund 50 Häuser und das Schloss leer, Flüchtlinge, meist aus den Ostgebieten, zogen ein. Anneliese Rettinger kam mit der Mutter und drei Geschwistern hierher. 1955 hat sie dann einen Bauern aus dem Dorf geheiratet.

In Bonnland hatte sich da schon wieder ein normales Dorfleben entwickelt: mit dem Gesangsverein "Liederkranz", dem Sportverein "SC Bonnland", einer Damen-Handballmannschaft, Gottesdiensten in der St. Michaeliskirche und Beerdigungen auf dem Friedhof. Hinter der Schule führt ein kleiner Weg wenige Meter einen Hügel hinauf. Auf dieser Anhöhe liegt der Friedhof von Bonnland. Hinter einem brusthohen Eisentor teilt ein betonierter Weg, unterbrochen von einigen Stufen, den Friedhof in eine linke und rechte Seite, links sind die Gräberreihen, die auf Trassen nebeneinander liegen, durch mannshohe Hecken getrennt. Rechts liegen sie einfach hintereinander. "Das sind die Gräber von vor 1938, links die zwischen 1945 und 1965", sagt Rettinger.

Sie geht dennoch zunächst auf die rechte Seite, also zu den älteren Gräbern. Ob ihr Kind hier auch liege? Nein, das liege oben, ganz links. Zum ersten Mal an diesem Tag zögert sie. Dann geht sie aber doch zurück auf den Mittelweg, ein Stück hinauf bis zur höchste Trasse auf der linken Seite. Am zweiten Grab links bleibt sie stehen. "Das war ein unheimlicher Schock damals. Mein Mann hat es viele Jahre lang nicht verkraftet." Sie löst ihren Blick vom Grab und geht weiter zu den Tafeln am oberen Ende des Mittelwegs, die an die Gebeine von Emilie Schiller erinnern. Früher sei sie oft hier gewesen, inzwischen sei ihr das nicht mehr so wichtig. "Die machen die Gräber ja immer sehr schön."

Tatsächlich beschäftigt die Bundeswehr einen Gärtner, der frische Blumen auf die Gräber setzt, die Hecken schneidet und die Wege vom Laub befreit - und die ein oder andere herumliegende Patronenhülse aufsammelt. Jetzt, kurz vor dem "Bonnlandfest", das dieses Jahr auf den 3. Oktober fällt, ist Bonnland sowieso herausgeputzt. Denn heute ist der einzige Tag, den die Standortverwaltung bewusst für Gäste frei hält. Dann kommen die ehemaligen Bonnländer zusammen, 50 sind es noch etwa, die in der Gegend wohnen, und besuchen ihre Angehörigen auf dem Friedhof.

Anneliese Rettinger hat einen Ausweis, mit dem auch sie an anderen Tagen ans Grab ihres Sohnes darf. Allerdings nur am Wochenende und auch nur dann, wenn auf dem Truppenübungsplatz nicht scharf geschossen wird. Dann finden allerdings meist Übungen statt, die über mehrere Tage gehen. "Einmal sind mein Sohn Detlef und ich mit dem Auto vom Friedhof zurückgefahren. Da ist uns ein Trupp in voller Montur den Feldweg entgegengekommen. Kaum hatten wir sie gesehen, waren die weg. Im Graben." Das ist nur ein Erlebnis von vielen, die ihr einen Schrecken eingejagt haben.

Schlimmer waren Explosionen von Minenattrappen in unmittelbarer Umgebung, während sie am Grab betete. Sie hat Angst, alleine hierherzukommen. Wenn sie überhaupt noch ans Grab geht, dann fährt sie mit einem der vier Kinder hierher.

Bleibt die Frage, warum sich die Bewohner damals nicht gegen die Pläne der Bundeswehr gewehrt haben. "Wir waren ja nur zur Pacht in den Häusern." sagt Rettinger. Tatsächlich war Bonnland ja mit der ersten Absiedelung durch die Nationalsozialisten 1938 in Staatsbesitz übergegangen. Damals waren die Bewohner auch entschädigt worden. Die Bauern hatten in Nachbarorten Höfe und Felder bekommen. Die Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg hierherzogen, waren zur Miete und Pacht hier.

Angesichts des derzeitigen Widerstands gegen eine Landesregierung, die einen Bahnhof umbauen möchte, lässt sich aber leicht ausmalen, was los wäre, wenn die Bundeswehr heute ein Dorf mit 560 Einwohnern räumen würde. 1965 war aber das Jahr, als Bonnland von den Karten verschwand. Google Maps wird den Ort auch in Zukunft nicht finden: Rein militärische Objekte sind auf offiziellen Karten nicht verzeichnet.

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