Bombenentschärfung in Frankfurt:Geisterstadt für einen Tag

Zehntausende Menschen in Frankfurt müssen ihre Wohnungen verlassen. Nach abgeschlossener Evakuierung beginnt die Entschärfung der Weltkriegsbombe mit zwei Stunden Verspätung.

Von Oliver Klasen, Frankfurt am Main

Kurz bevor Dieter Schwetzler anfangen will zu erklären, wie er am Sonntag die Bombe entschärfen wird, läuft eine Ratte über die Max-Horkheimer-Straße in Richtung Theodor-W.-Adorno-Platz. Es ist eine große Ratte, 30 Zentimeter mit Schwanz, die - schwupps - in einem Loch unter einem Treppenabsatz verschwindet. Sie wird auch später noch mehrmals gesehen, vermutlich ist der Campus Westend, wo die Straßen nach den berühmten Philosophen der Frankfurter Schule benannt sind, ihr Revier. Und weil Ratten das ungern verlassen, ist sie, neben Schwetzler und seinem Kollegen, eines der ganz wenigen Lebewesen, die sich am Sonntag in der Sperrzone aufhalten dürfen.

Es ist die größte Evakuierung in der Geschichte der Bundesrepublik. Zwischen 60 000 und 70 000 Menschen müssen ihre Wohnungen verlassen. "Wie viele es genau sind, lässt sich nur schwer sagen, weil wir nur die Daten des Meldeamtes haben, aber nicht wissen können, wer gerade beruflich unterwegs oder im Urlaub ist, Besuch hat oder nicht ordnungsgemäß gemeldet ist", erklärt Ordnungsamtschef Jörg Bannach. Betroffen ist ein riesiges Gebiet mit den Frankfurter Stadteilen Westend, Nordend, Dornbusch sowie kleinen Teilen von Bockenheim und der Innenstadt. 1,5 Kilometer Radius, so viel halten die Experten für nötig, damit niemand zu Schaden kommt, sollte wider Erwarten doch etwas schief gehen. In der Sperrzone liegen zwei Krankenhäuser, zehn Altenheime, die Bundesbank, der Hessische Rundfunk und das Polizeipräsidium.

Fast 20 Uhr, am Vorabend der Entschärfung, die Sonne geht gleich unter in Frankfurt. Schwetzler, Chef des hessischen Kampfmittelräumdienstes, ist "zufällig nochmal hier vorbeigekommen", wie er sagt. Schwetzler, 61, lindgrünes Hemd und Jeans, bei der Bundeswehr ausgebildet, entschärft seit 42 Jahren Bomben, aber bei diesem Exemplar - einer britischen HC-4000-Luftmine aus dem Zweiten Weltkrieg mit 1,4 Tonnen Sprengstoff - ist selbst er nervös. "Ich gebe zu, die letzten Tage habe ich etwas unruhiger geschlafen. Das ist schon ein besonderer Moment in meiner Laufbahn." Gesehen hat Schwetzler eine baugleiche Bombe schon einmal, vergangenes Jahr in Augsburg. Dort war er als Reserve im Einsatz, "weil die bayerischen Kollegen kein Wasserstrahlschneidgerät haben", sagt Schwetzler.

Das Wasserstrahlschneidgerät, 700 bar Druck, ist immer Plan B, um die Zünder unschädlich zu machen. Plan A ist die Raketenklemme, eine Art Schraubstock, an dessen beiden Enden eine Katusche mit Schwarzpulver gezündet wird, um den Zünder abzusprengen. Wenn es soweit ist, werden sich Schwetzler und sein Kollege in zwei-, dreihundert Meter Entfernung hinter einem Unigebäude postieren, "an einer Stelle, an der es keine Fenster gibt", sagt der Sprengmeister. Vier Stunden hat Schwetzler sicherheitshalber eingeplant, um die Bombe unschädlich zu machen.

Gut 15 Stunden vorher laufen hier noch Studenten über den Campus. In dem Wohnheim an der Evangelischen Studentengemeinde brennt in einigen Zimmern Licht. Dutzende strömen außerdem aus der Bibliothek, die bis 21 Uhr geöffnet hat. Davor sucht ein Flaschensammler nach Verwertbarem. Anna Hita, 21, hält einen Energydrink in der einen Hand und schiebt mit der anderen Hand einen Rollkoffer über den Platz. "Ich geh lieber heute schon raus. Dann muss ich nicht so früh aufstehen. Außerdem sind morgen die U-Bahnen wahrscheinlich überfüllt." Gemeinsam mit ihrer Freundin Janine Sell, die aus Bremen zu Besuch ist, kommt sie bei Freunden unter, die außerhalb des Sperrgebiets wohnen. Sie geht davon aus, dass alles gut geht. Im Koffer hat sie nur Sachen für einen Tag, "der Rest sind Ordner mit Lernzeugs", sagt die Studentin.

Hundertschaften kontrollieren die Straßen

Die meisten Bewohner haben es genauso gemacht. Am frühen Sonntagmorgen ist auf den Straßen in der Sperrzone noch viel weniger los als an jedem anderen Sonntag. Nur vereinzelt wird die Stille unterbrochen durch das scheppernde Geräusch von Kofferrollen auf dem Asphalt. Viele haben die Ratschläge der Behörden befolgt und ihre Wohnungen rechtzeitig verlassen, "urlaubsfertig", wie ein Vertreter der Feuerwehr einige Tage vorher sagte. "Es ist tatsächlich so ähnlich, als würde man verreisen", sagt Wolfgang Henseler aus Frankfurt-Dornbusch, der mit seiner Frau gegen sieben Uhr am Sonntagmorgen in seine Kombi steigt. Die beiden fahren zu ihrem Sohn ins nahegelegene Bad Homburg. "Hoffen wir mal, dass alles gut geht, auch für das Entschärfungsteam", sagt Henseler, bevor er die Autotür zuschlägt und losfährt.

"Ein schönes Gefühl ist es nicht, aus der eigenen Wohnung rauszumüssen", sagt Oliver Nicolas, als er im Westend gerade den Kinderwagen in sein Auto lädt. Mit seiner Partnerin und dem sechs Monate alten Sohn kommt er bei Verwandten unter. Ein Lieferwagen des Straßenverkehrsamtes stellt in der Nähe des Beethovenplatzes rot-weiße Baustellenzäune an der Straße auf. In der U-Bahn-Station Bockenheimer Straße sagt eine Stimme durch, dass die meisten Linien ab 8 Uhr unterbrochen werden.

8 Uhr, das war eigentlich die absolute Deadline, nach der sich niemand, der selbstständig gehen kann, in der Sperrzone aufhalten darf. Hundertschaften der Polizei durchkämmen die Straßenzüge, um das zu kontrollieren. Altenheime und Krankenhäuser, darunter auch eine Frühchenstation, waren bereits in den Tagen zuvor geräumt worden. Für bettlägerige oder gehbehinderte Personen in Privathaushalten, die die Sperrzone ohne Hilfe nicht verlassen konnten, wurden am Sonntagmorgen extra Krankentransporte organisiert.

Stadtverwaltung, Polizei und Feuerwehr hatten zuvor Karten und allerlei Infomaterial veröffentlicht, zwei Pressekonferenzen veranstaltet und ein Bürgertelefon eingerichtet. Von einem "gewaltigen Kraftakt", spricht Markus Röck, der Pressesprecher der Frankfurter Polizei. Das Ziel sei, "die Zahl derjenigen, die nichts über die Entschärfung wissen, möglichst gering zu halten". 1100 Einsatzkräfte von Feuerwehr, Katastrophenschutz und Rettungsdiensten sind dazu im Einsatz, zusätzlich weit mehr als 1000 Polizisten. Einige Anwohner, die knapp außerhalb der Sperrzone wohnen, veranstalten ein Nachbarschaftsfrühstück und bieten Menschen aus den Nebenstraßen Zuflucht an.

Um kurz vor 8 ist Röck zuversichtlich. "Die Einsatzleiter machen gerade eine kurze Kaffeepause. Dass sie das können, ist ein gutes Zeichen." Ganz reibungslos klappt die Evakuierung trotzdem nicht. Ein mit einer Wärmebildkamera ausgestatteter Hubschrauber, der die Fußtruppen der Polizei unterstützen soll, kann wegen Nebels erst zwei Stunden später aufsteigen als geplant. Genau wie in Koblenz, wo einen Tag vorher eine große Weltkriegsbombe entschärft wurde, gibt es auch in Frankfurt einige wenige Personen, die sich der Evakuierung zunächst widersetzen. "Die Kollegen haben diese Personen persönlich hinausbegleitet", sagt Gerhard Bereswill, der Frankfurter Polizeipräsident. "Das sind aber Einzelfälle. Wir hatten in einem Haus auch eine Gruppe von Asiaten, die wirklich nicht wussten, was los ist."

"12 von 15 Sektoren frei", meldet die Polizei um viertel vor zwölf. Sieht gut aus. Um 12 Uhr sollte die Entschärfung beginnen. Doch dann die Nachricht, dass es noch einen Mann gibt, der sich irgendwo in einem Straßenzug vor der Polizei versteckt hält. Außerdem sollen einige Personen fröhlich winkend am Fenster gestanden haben, als die Feuerwehr vorbeikam. "Das ärgert mich maßlos. Wir haben tagelang mit den Einsatzkräften alles gegeben und wegen einer Handvoll Menschen müssen wir jetzt die ganze Maschinerie anhalten", sagt Branddirektor Reinhard Ries. Er hoffe, dass die Betroffenen dafür zur Rechenschaft gezogen werden.

Der Zeitplan gerät in Gefahr. Erst heißt es, 30 Minuten später soll es losgehen, dann eine Stunde später. Es wird schließlich 14.27 Uhr, bis der Polizeipräsident einen Anruf auf dem Handy bekommt. "Der Einsatzleiter meldet Sicherheit", sagt Gerhard Bereswill. "Sicherheit heißt, dass das Areal menschenleer ist". Renitente Anwohner haben die Evakuierung erheblich verzögert. Peter Feldmann, der Oberbürgermeister, ist trotzdem zufrieden: "Der übergroße Teil der Frankfurter ist recht gelassen und kooperiert wunderbar, dafür kann ich nur meinen Dank aussprechen", sagt er in der Einsatzzentrale der Feuerwehr. "Trotzdem macht man sich immer Sorgen", so Feldmann. Am späten Nachmittag wird sich hoffentlich zeigen, dass diese Sorgen unbegründet sind.

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