Bluttat in Lünen:"Jeder elfte männliche 15-Jährige bringt gelegentlich ein Messer mit in die Schule"

Teenager Murders Fellow Classmate At School In Germany

Trauer an der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule in Lünen: Kerzen, Blumen, Ballons und Briefe erinnern an das 14-jährige Opfer.

(Foto: Getty Images)

Der 15-Jährige, der seinen Mitschüler erstochen hat, galt als aggressiv. Ein Soziologe erklärt, wie man mit solchen Schülern umgehen sollte. Und warum Schulen das oft nicht leisten können.

Interview von Nadeschda Scharfenberg

Die Tat hat Entsetzen ausgelöst in Lünen, einer Stadt im Herzen von Nordrhein-Westfalen am Rande des Ruhrgebiets: Am Dienstag soll ein 15-Jähriger an der Käthe-Kollwitz-Schule einen 14-Jährigen erstochen haben, heute soll er dem Haftrichter vorgeführt werden. Wie konnte es zu der Tat kommen? Der Soziologe Dirk Baier beschäftigt sich intensiv mit dem Thema Gewalt an Schulen. Er ist Professor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und war zuvor drei Jahre lang stellvertretender Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen.

SZ: Ein 15-Jähriger ersticht in der Schule einen 14-Jährigen. Ist das ein krasser Einzelfall oder nimmt die Zahl extremer Gewalttaten an Schulen in Deutschland zu?

Dirk Baier: Unsere Daten sagen: Das ist ein krasser Einzelfall. Mord und Totschlag unter Jugendlichen haben sich seit Mitte der 2000er Jahre zahlenmäßig etwa halbiert. Wenn wir uns explizit den Bereich Schule anschauen, dann ist die Zahl der schweren Gewalttaten deutlich zurückgegangen. Es stimmt nicht, dass es an Schulen brutaler zugeht als früher.

Was genau ist die Definition für eine "schwere Gewalttat"?

Das beginnt bei schwerer Körperverletzung, also bei Vorfällen, bei denen es zum Beispiel zu einem Nasenbeinbruch, Kieferbruch oder ähnlichem kommt. Die Statistiken für die Schulen sind da zusammenfassend angelegt, Mord und Totschlag werden nicht als separate Kategorie ausgewiesen. Ich gehe davon aus, dass wir, würden Mord und Totschlag als Kategorie erfasst, in vielen Jahren eine Null stehen hätten.

Wie kommt es dann, dass die gefühlte Wahrheit eine andere ist?

Tatsächlich stimme in unseren Umfragen zwischen 80 und 90 Prozent der Bevölkerung der Aussage zu, dass Jugendgewalt steigt. Die Wahrheit ist aber diametral entgegengesetzt. Der Eindruck, den die Menschen haben, kommt zum einen daher, dass die Medien länger und intensiver über Gewaltvorfälle berichten als früher - und verstärkt überregional. Die Fälle werden breiter diskutiert, was auch mit dem Internet und Social Media zusammenhängt.

Zum anderen spielen die Amokläufe an Schulen eine Rolle, die es ja auch in Deutschland gegeben hat. Das sind die extremsten Gewalttaten an Schulen überhaupt, mit vielen Opfern. Dieses exzessive Töten und die Diskussion darüber überdecken, dass die Schulen insgesamt sicherer geworden sind.

Trifft das auch auf nicht-körperliche Gewalt zu? Stichwort Mobbing.

Da muss man zwei Bereiche unterscheiden. Der eine ist das verbale Mobbing, Beschimpfungen in der Realwelt. Da sehen wir ähnliche Trends wie bei der körperlichen Gewalt: Die Zahl der Fälle geht leicht zurück. Wo wir Anstiege sehen, ist im zweiten Bereich, dem Cybermobbing, also beim Beleidigen im Internet, über Handys.

Kein Wunder, es hat ja inzwischen fast jeder Schüler ein Smartphone.

Ja, das stimmt - aber die Fälle von Cybermobbing steigen immer noch an, obwohl die Ausstattung mit Geräten seit ein paar Jahren konstant geblieben ist. Das Mobbing verlagert sich von der realen Welt ins Internet, weil es einfacher ist, jemanden zu beleidigen, wenn man ihn physisch nicht vor sich hat. Geschrieben hat man schnell mal was, die Hemmschwelle ist niedriger.

"Man sieht ja nicht, was alles schon verhindert wurde"

Kommen wir auf den Täter von Lünen zu sprechen: Er war mit seiner Mutter auf dem Weg zu einer Anhörung bei der Schulsozialarbeiterin, weil er nach einem Schulwechsel wieder zurückkehren sollte. Als Motiv gab er an, das spätere Opfer habe seine Mutter "provozierend angeschaut". Was sagt das über die Umstände der Tat aus?

Es ist schwierig, über den konkreten Auslöser zu spekulieren, weil man die familiären Hintergründe nicht kennt. Es wird ja auch gesagt, es gab schon vorher Konflikte, er sei ein auffälliger Schüler gewesen.

Polizeibekannt, aggressiv, unbeschulbar.

Das ist vielleicht ein Punkt, wo man sagen kann, dass die Schule sich nicht ausreichend intensiv Gedanken gemacht hat. Was bedeutet das für einen Schüler, der aufgrund seines Verhaltens schon mal die Schule verlassen musste und wieder zurückkommt? Das ist eine Situation, in der ein junger Mensch unter Stress steht, die er möglicherweise als Gesichtsverlust empfindet. Das ist natürlich null Entschuldigung für die Tat, solche Settings gibt es Tausende Male und nichts passiert. Trotzdem müssten sich die Schulen ein bisschen mehr dem Thema widmen, wie man mit solchen Schülern umgeht.

Die Lösung heißt in solchen Fällen oft: Schulwechsel.

Ja, und dort kommt der Schüler schon mit Stigma an. Schulen können das oft gar nicht leisten, solche Schüler vom Verhalten her wieder unterrichtsfähig zu machen. Da gibt es einen Sozialarbeiter für 1000 Schüler. Um intensive Schulverweigerer auf die richtige Bahn zu lenken, braucht man fast eine Eins-zu-eins-Betreuung.

Wie könnte so etwas aussehen?

Es gibt Modellprojekte für intensive Schulschwänzer, wo man eine Art Time-out macht, wo man die Schüler in ganz kleinen Gruppen mit fünf oder sechs Jugendlichen zusammenbringt und intensiv mit Sozialarbeitern arbeitet. Da steht nicht Wissensvermittlung im Vordergrund, sondern dass man die Jugendlichen dazu bringt, eine Grundstruktur im Tagesablauf zu etablieren, ganz langsam die Motivation zu wecken, Selbstwirksamkeitserlebnisse zu schaffen, zum Teil die familiäre Situation aufzuarbeiten. Das ist sehr aufwändig, deshalb gibt es das nicht flächendeckend. Das muss aus den Schulen ausgelagert werden.

Auch wenn die Schule in Lünen die psychische Situation des Täters vielleicht falsch eingeschätzt hat: Eskalieren konnte das nur, weil er eine Waffe dabei hatte.

Das ist ein großes Problem. Bei einer Befragung vor drei Jahren in Niedersachsen hat sich gezeigt, dass jeder elfte männliche 15-Jährige zumindest gelegentlich ein Messer mit in die Schule bringt. Über dieses Phänomen machen sich die Schulen zu wenig Gedanken.

Was ließe sich denn gegen Messer tun? Taschenkontrolle am Eingang?

Die amerikanischen Modelle bis hin zu Metalldetektoren - ich weiß nicht, ob das die richtige Antwort ist. Es geht mehr um die Schaffung eines Bewusstseins, dass Waffen an Schulen nichts verloren haben. Die Lehrer müssen deutlich machen, wohin es führen kann, wenn man Waffen mit sich trägt.

Aber genau solche Präventionsprogramme hat es ja gegeben in Lünen, die Käthe-Kollwitz-Schule nennt sich "Schule mit Courage".

Man kann wegen des einen dramatischen Vorfalls nun nicht sagen, dass das alles nicht funktionieren würde. Man sieht ja nicht, was durch Gewaltpräventionsprogramme schon alles verhindert worden ist. Fest steht: Mehr als zwei Drittel der weiterführenden Schulen bieten Aktionen zur Gewaltprävention an - und tragen das offensiv nach außen. Das ist ein sehr wichtiger und richtiger Schritt, dass Gewaltprobleme nicht verschwiegen und versteckt, sondern offen und öffentlich angegangen werden.

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