Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Warum sich Kinobetreiber vor einem Gangfilm fürchten

Lesezeit: 2 min

Von Alexander Menden

Es geht um zwei schwarze Jugendliche: Die beiden Freunde Timmy und Marco werden in eine Gang-Fehde hineingezogen, weil sie den verfeindeten Postleitzahlen-Revieren SE8 und SE15 wohnen. "Blue Story" heißt der neue Film, den Regisseur Andrew Onwubolu, besser bekannt unter den Künstlernahmen Rapman, immerhin in Zusammenarbeit mit der BBC produziert hat. Das ist wichtig zu betonen, denn seit der Film am vergangenen Freitag in Großbritannien gestartet ist, gilt er als vermeintlich gefährliches Werk.

Familien, die im Vue-Kino des Star-City-Freizeitkomplexes von Birmingham am Samstag auf die nächste Vorstellung von "Frozen 2" warteten, fanden sich plötzlich inmitten gewalttätiger Szenen wieder. Um die 100 Jugendliche stürmten gegen 17:30 Uhr die Lobby. Mindestens zwei von ihnen hatten Macheten dabei. Es gab Schlägereien, die rasch herbeigerufene Polizei nahm fünf Teenager fest, darunter ein 13jähriges Mädchen. Sieben Beamte wurden verletzt. Es war der spektakulärste Vorfall am vergangenen Wochenende, an dem 16 Kinos insgesamt 25 aggressive Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen meldeten.

Als Auslöser war rasch der gerade angelaufene Film von Onwobolu ausgemacht. Die Geschäftsführung der Vue-Cinema-Kette verkündete am Sonntag, dass sie "Blue Story" bis auf Weiteres in allen 60 Filialen, in denen er lief, aus dem Programm nehmen werde. Kurz darauf schloss sich eine weitere Kette, Showcase Cinemas, der Entscheidung an, den Film vorläufig nicht mehr zu zeigen. Gedreht im Dokumentarfilmstil, mit iPhone-Filmmaterial und Nachrichtenclips, thematisiert "Blue Story" die Ganggewalt, der in englischen Großstädte seit vielen Jahren vor allem junge schwarze Männer zum Opfer fallen. Erklärend durchbricht Onwubolu dabei immer wieder die Handlung und kommentiert das Geschehen mit musikvideoartigen Zwischenspielen, einer Art gerapptem griechischem Chor.

Der Film greift ein extrem drängendes Problem auf. Jede Woche gibt es in London und anderen größeren Städten Großbritanniens Messerstechereien oder Schusswechsel zwischen Gangs. Allein in der britischen Hauptstadt starben dabei von Januar bis Anfang Oktober dieses Jahres 21 Teenager. Die Territorien Gangs sind nach Postleitzahlen getrennt. Für viele junge Menschen besteht der Straßenplan aus unsichtbaren Grenzen, deren Überschreitung zu - nicht selten tödlichen - Attacken durch benachbarte Gangs führen kann. Manche von ihnen kontrollieren dabei Gebiete, die kaum mehr als ein paar hundert Quadratmeter umfassen. Diese Selbstbeschränkung schlägt sich auch in der Umgangssprache nieder: Was früher "hoods", also Nachbarschaften waren, das heißt mittlerweile "endz" - Grenzen.

Andrew Onwubolu hat einen Zusammenhang zwischen "Blue Story" und den Ausschreitungen bestritten. In seinem Film gehe es um "Liebe, nicht um Hass", so der Regisseur, der "verborgene Gründe" vermutete und damit ein rassistisches Motiv für die Aufführsperre andeutete. Dem schlossen sich andere an. Der schwarze Londoner Designer Will Adoasi etwa wies darauf hin, dass es 2012 in den USA bei einer Premiere des Batman-Films "The Dark Knight Rises" einen Amoklauf mit zwölf Toten gegeben habe, und der Film auch nicht verboten worden sei. Ein Sprecher der Produktionsfirma BBC Films beschrieb den Film als "ein herausragendes, von der Kritik gefeiertes Debüt, das die Sinnlosigkeit von Ganggewalt eindrucksvoll darstellt".

Tim Richards, Gründer und Geschäftsführer von Vue International, hat den Vorwurf des Rassismus als "extrem beunruhigend und absolut grundlos" von sich gewiesen. Das Unternehmen, so Richards, habe sich die Entscheidung, den Film nicht mehr zu zeigen, sehr schwer gemacht, und sie letztlich zugunsten der Sicherheit von Mitarbeitern und Kunden getroffen. Die Kinos der Showcase-Kette zeigen den Film mittlerweile wieder. Und auch Vue plant, ihn an diesem Wochenende wieder ins Programm zu nehmen. Vue-Chef Tim Richards bezeichnete "Blue Story" als sehr wichtigen Film", dessen Botschaft gehört werden müsse.

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Quelle:
SZ vom 30.11.2019
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