BGH-Urteil:Womit Kindersaft sich brüsten darf

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"Lernstark. Mit Eisen zur Unterstützung der Konzentrationsfähigkeit": Rotbäckensaft.

(Foto: dpa)
  • Die Firma Rabenhorst darf ihren Rotbäckchensaft als "lernstark" und die Konzentrationsfähigkeit fördernd bezeichnen.
  • Das hat das BGH entschieden und damit ein wichtiges Urteil zu den umkämpften gesundheitsbezogenen Angaben auf Produkten gefällt.
  • Medizin-Experten stößt der seit 1952 vertriebene Saft dennoch auf.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe, und Christina Berndt

Das blonde Mädchen mit den viel zu roten Wangen strahlt nur so vor Gesundheit, aber um wirklich jeden Zweifel skeptischer Eltern auszuräumen, hat das Haus Rabenhorst seinem Dauerbrenner Rotbäckchensaft eine irgendwie wissenschaftlich klingende Botschaft hinzugefügt: "Lernstark. Mit Eisen zur Unterstützung der Konzentrationsfähigkeit." Dem Slogan hat an diesem Mittwoch der Bundesgerichtshof (BGH) das höchstrichterliche Plazet erteilt - und damit ein weiteres wichtiges Urteil zu den seit Jahren heftig umkämpften "Health Claims" gefällt.

"Health Claims" sind nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben, also jene Botschaften, die dem Verbraucher nahelegen, das Produkt sei seiner Gesundheit zuträglich. Weil sich mit dem Appell an das Gesundheitsbewusstsein allerlei Schindluder treiben lässt, hat die EU im Jahr 2006 eine Verordnung erlassen, die das gefährliche Spiel mit vorgeblichen Cholesterinsenkern, Kalorienvermeidern und Verdauungsförderern einem Regelwerk unterwirft. Spezifische Angaben - Jod bewirkt dieses, Phosphor hilft gegen jenes - sind nur erlaubt, wenn sie in der ständig wachsenden Verordnungsliste enthalten sind. Nach dem Motto: Amtlich geprüft und zugelassen.

"Viel hilft viel" gilt in fast keinem Bereich des Lebens

Für Eisen, das den Rotbäckchensaft angeblich so gesundheitsfördernd macht, steht dort, es trage zur "normalen kognitiven Entwicklung von Kindern" bei. Das ist zwar nicht dasselbe wie eine "Unterstützung der Konzentrationsfähigkeit", aber laut BGH entspricht die Werbebotschaft dem Sinn der Verordnung. "Man darf die Angaben etwas abwandeln", sagte der Senatsvorsitzende Thomas Koch.

Medizin-Experten stößt der seit 1952 vertriebene Saft dennoch auf - ebenso wie andere vitamin- oder nährstoffreiche Produkte, mit denen Deutschlands Eltern ihre Kinder fit fürs Leben machen wollen. Zu ihnen gehören auch die moderneren "Orthomol"-Präparate, die es inzwischen in verschiedenen Junior-Varianten gibt, und das vitaminreiche "Sanostol", das mit seinem nervtötenden Dreiklang seit Jahrzehnten in Ohren und Münder dringt und den damit aufgewachsenen Generationen nunmehr auch in einer Erwachsenen-Version zur Verfügung steht. Aktuelles Motto: "Und das Leben kann kommen."

Kundentreue fürs ganze Leben: Das ist genau das, was Fachleute befürchten. "Ich sehe grundsätzlich ein Problem darin, Kinder von klein auf regelmäßig mit Arzneimitteln oder Nahrungsergänzungsmitteln zu versorgen", sagt der Arzt und Pharmazeut Wolfgang Becker-Brüser von der Fachzeitschrift Arznei-Telegramm. "Man gewöhnt sie an den Gebrauch der Pillen und Säfte. Sie bekommen den Eindruck, dass man so etwas zum Leben braucht."

Doch der Glaube der Eltern sitzt tief, wohl auch, weil er mittlerweile seit Jahrhunderten verankert ist. Denn angefangen hat die kommerzielle Gesundheitsnachhilfe für Kinder schon vor fast 200 Jahren, als deutsche Wissenschaftler feststellten, dass Lebertran gegen Rachitis hervorragende Wirkung entfaltet. Generationenweise mussten Kinder fortan täglich einen Löffel des penetrant schmeckenden Öls aus Fischlebern schlucken.

Vitamine sind nicht grundsätzlich Gesundmacher

Wenn aber ein Vitamin-D-reiches Leberextrakt gegen eine Vitamin-D-Mangelkrankheit hilft, dann heißt das noch lange nicht, dass Lebertran auch dann gut ist, wenn man gerade keine Rachitis hat. Ebenso sind eisenhaltige Säfte vielleicht dann sinnvoll, wenn ein Kind wirklich zu wenig Eisen im Körper hat, aber zur täglichen Prophylaxe sind sie äußerst fragwürdig.

Denn "Viel hilft viel" gilt in fast keinem Bereich des Lebens, schon gar nicht in der Medizin. "Es ist wie beim Tanken", sagt der Pharmazeut Becker-Brüser. "Wenn man ein Auto fahren will, das einen leeren Tank hat, hilft es enorm, Benzin einzufüllen. Wenn aber schon Benzin drin ist, fährt man mit mehr Benzin auch nicht flotter."

Noch dazu sind Vitamine und Mineralstoffe, so lebenswichtig sie in kleinen Mengen sind, nicht grundsätzlich Gesundmacher. Schon beim Lebertran wurde bald bekannt, dass ein Zuviel davon zur Hypervitaminose führen kann, die mit Schwindel und Lethargie eher das Gegenteil von Konzentrationssteigerung ist. Zuletzt zeigte sich sogar, dass Vitamine auch das Krebsrisiko erhöhen können.

"Kinder brauchen keine Spezialgetränke", sagt der Arzt

Für den Kinderarzt Martin Terhardt vom Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte steht deshalb fest: "Ich empfehle solche Zusatzprodukte nicht." Heranwachsende sollten sich gesund ernähren und an der frischen Luft bewegen. "Kinder brauchen keine Spezialgetränke." Nur bei akuten Mangel- oder Fehlernährungen seien Zusatzstoffe erforderlich. Terhardt befürchtet auch, dass Vitaminpillen oder -säfte häufig eine gesunde Lebensweise sogar verhindern. "Kinder und Eltern haben dann das Gefühl, dass sie ja schon genug Vitamine zu sich genommen haben", sagt er. Sie meinen, den Rest des Tages Fast Food essen zu können.

Mit seinem "Rotbäckchen"-Urteil hat der BGH der Lebensmittelindustrie nun trotz aller Vorbehalte aus der Fachwelt den Weg für einen flexibleren Umgang mit den europäischen "Health Claims"-Regeln geöffnet. Das stößt auch bei Verbraucherschützern auf Kritik: Seit Jahren zieht der Bundesverband der Verbraucherzentralen wegen angeblich gesundheitsfördernder Produkte vor Gericht, oft genug mit Erfolg. Einem Bierbrauer und einer Winzergenossenschaft wurde zum Beispiel der Zusatz "bekömmlich" untersagt.

Aus Sicht von Sophie Herr, beim Bundesverband zuständig für Lebensmittel, schützt das EU-Regelwerk gleichwohl nicht ausreichend vor leeren Gesundheitsversprechen. Notwendig seien zum Beispiel Nährwertprofile, sonst könnten sogar Chips wegen der Omega-3-Fettsäuren aus dem verwendeten Pflanzenöl als gesundheitsfördernd angepriesen werden.

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