Süddeutsche Zeitung

Beruhigung:Der Schrei nach Stille

Lesezeit: 3 min

Was tun, wenn Babys sich nicht besänftigen lassen? Zu Besuch in der Berliner Schreiambulanz

Die Welt gerinnt zu einem Schrei. Das Becken wölbt sich, der Bauch krampft sich zusammen, die Arme rudern in der Luft, die Muskeln werden hart wie Stahlseile. Für Gisa Basdorf (Name geändert) gehört das zum Alltag. Tag für Tag befallen Schreiattacken den kleinen Körper ihrer drei Wochen alten Maya. Seit ihrer Geburt schreit Maya stundenlang, immer wieder, lässt sich nicht beruhigen. Einmal fuhr Gisa Basdorf verzweifelt mit ihrer Tochter ins Krankenhaus. Doch die Ärzte zuckten nur mit den Schultern. Dreimonatskoliken vielleicht. Als sich ein Anfall auf acht Stunden ausdehnte, hielt sie es nicht mehr aus. "Es half nichts mehr, kein Rumtragen, kein Wiegen, nicht mal für ein paar Sekunden." Die Hebamme riet ihr, zur Schreiambulanz zu gehen.

Ich wollte einfach, dass mir jemand hilft

Ein Industriegebäude in der Osloer Straße, Berlin-Wedding. Gisa und ihr Mann Marco sitzen auf einer Matratzenlandschaft, in der Babyschale schaukelt Maya, ruhig und ernst, wie ein Engel im Wind. Gerd Poerschke kennt das schon: "Der Vorführeffekt". Seit mehr als drei Jahren betreut der Psychologe und Körpertherapeut verzweifelte Eltern in der Berliner Schreibaby-Ambulanz. Hier können sie anrufen, sich telephonisch beraten lassen oder einen Termin machen. Im Notfall gibt es auch Hausbesuche.

Als Gisa Basdorf vor einer Woche in der Ambulanz anrief, kam gleich eine Kollegin von Poerschke vorbei. "Wir waren einfach zu fertig, um das Haus zu verlassen", sagt Basdorf. "Ich hab nichts erwartet, ich wollte einfach, dass mir jemand hilft". Eineinhalb Stunden lang sprach die Kollegin mit Basdorf, massierte das Kind, trug es herum, machte Mut.

"Schreibabys sind eine Wahnsinnsbelastung für die Eltern", sagt Poerschke. "Zunächst ist es ganz wichtig, dass sie sich mal alles von der Seele reden und Druck ablassen können." Zumal die Umgebung es den Eltern alles andere als leicht macht. Oft hagelt es gute Ratschläge, nicht selten gibt es unterschwellige Vorwürfe, fast nie bietet jemand konkrete Entlastung an. Zum Beispiel mal eine Stunde das schreiende Baby betreuen, damit sich die Eltern ausruhen können.

"Das Schreien von Babys ist so angelegt, dass es einen Alarmzustand beim Gegenüber auslöst", sagt Poerschke. "Das hält kein Mensch länger aus. Auch ich kann diese Arbeit nicht mehr als vier Stunden am Tag machen. Es ist ganz normal, dass auch Eltern Aggressionen entwickeln, manchmal haben sie sogar Gewaltphantasien." Wichtig sei es, die Eltern von Schuldvorwürfen zu entlasten und positives Verhalten zu unterstützen.

Ein Geheimrezept gegen die Schreiattacken gibt es freilich nicht. Aber lindernde Methoden. Die Mitarbeiter der Ambulanz setzen auf sanfte körpertherapeutische Verfahren und zeigen den Eltern Entspannungstechniken. Stress ausatmen, tief in den Bauch atmen, sich fallen lassen. Vor allem: Ruhig bleiben, wenn das Kind sich die Lunge aus dem Leibe brüllt. Wenn es beim Besuch zu schreien beginnt, arbeitet Poerschke selbst mit dem Baby. Sanfte Massage gegen die verspannte Muskulatur. Umhertragen mit zwei speziellen Griffen, die dem Baby Halt geben, ohne es am Schreien zu hindern. Begleitet von einem tiefen Brummen, das dem Baby die beruhigende Nähe des anderen Körpers vermittelt. "Schreibabys haben meist Angst vor der Ruhe. Irgendwann haben sie mal die Grenze überschritten, an der ihnen alles zu viel war, und jetzt kommen sie da nicht mehr raus", sagt Poerschke. "Wenn man es mit solchen Methoden schafft, sie nur für einige Sekunden aus ihrem Schrei-Automatismus rauszuholen, ist viel erreicht." Das Baby hält inne, guckt, merkt, dass es auch ohne Schreien geht - wenn auch erst mal nur für Sekunden. Die Mitarbeiter der Ambulanz haben reichlich Erfahrung.

Seit mehr als zehn Jahren gibt es die Einrichtung in Berlin, mittlerweile an vier Standorten in der Stadt. 153 Schreibabys kamen allein im vergangenen Jahr. Oft schreien sie zehn bis 15 Stunden am Tag, in Extremfällen sogar 20. Warum brüllen einige Babys stundenlang, andere nicht? "Wissenschaftlich ist das noch nicht ausreichend untersucht, aber vermutlich spielen Risikogruppen, Probleme und Stress in der Schwangerschaft oder bei der Geburt eine wichtige Rolle", sagt Poerschke. "Mit dem sozialen Umfeld hat es unserer Meinung nach ebenso wenig zu tun wie mit Krisen in der Partnerschaft nach der Geburt. Das macht den Umgang mit dem Problem zwar schwieriger, ist aber nicht die Ursache des Problems."

Da muss man eben durch

Bei den meisten Kindern ist die Schreiphase nach drei oder vier Wochen wieder vorbei. Einige nehmen ihr Problem allerdings mit in die Kindheit. "Schreikleinkinder", wie Poerschke sie nennt, sind extrem unruhig, laufen gegen Wände, schlagen ihren Kopf gegen die Wand. Bald der Hälfte der ehemaligen Schreibabys wird später ein Aufmerksamkeitsdefizit diagnostiziert. Deshalb steht die Schreibaby-Ambulanz auch Kleinkindern offen. "Hier müsste viel mehr geschehen. Die Bedeutung der Primärprävention wird in unserer Gesellschaft unterschätzt. Probleme von Kindern unter drei werden ignoriert." Auch die Ambulanz ist auf Stifter angewiesen. Ohne Gelder vom Nachbarschafts- und Selbsthilfezentrum in Berlin-Tempelhof, von der Charlotte-Stepphuhn-Stiftung und der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport müsste sie dicht machen. Gisa Basdorf hat wieder Mut gefasst. Seit ein paar Tagen läuft es besser. "Wir haben gelernt, dass es wichtig ist, Ruhe zu bewahren und zu akzeptieren, dass es eben Schreibbabys gibt." Und immerhin, jeden Tag um 23 Uhr, ist mit dem Brüllen Schluss. "Als hätte man einen Schalter umgelegt. Und durch den Rest muss man eben durch", sagt Basdorf. "Auch Mayas ältere Schwester ist viel ruhiger geworden, als sie zu krabbeln anfing." Bis dahin dauerte es allerdings neun Monate.

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Anja Dilk
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