Süddeutsche Zeitung

Berliner Tempodrom:Das Ende einer Heldenlegende

Die ehemalige Chefin des legendären Westberliner Veranstaltungszeltes Tempodrom, Irene Moessinger, steht wegen Untreue vor Gericht - sie soll sich zu hohe Gehälter genehmigt haben. Der Tempodrom-Skandal erschütterte die gesamte Berliner Landespolitik.

Philip Grassmann

Irene Moessinger ist pünktlich an diesem Tag, an dem im Berliner Landgericht das letzte Kapitel einer Geschichte aufgeschlagen wird, die vor 28 Jahren mit der Erbschaft einer Tante und der Gründung des legendären Westberliner Kulturzelts Tempodrom begann und nach vielen Wirrungen mit einer Politaffäre und einer herben Pleite endete.

Ganz in Weiß gekleidet sitzt Irene Moessinger kerzengerade neben ihrem einstigen Geschäftspartner Norbert Waehl auf der Anklagebank. Von den vielen Menschen, die in die Tempodrom-Affäre verwickelt waren, sind sie die Einzigen, die sich am Ende vor Gericht verantworten müssen.

Die Anklagen der Staatsanwaltschaft wegen Untreue gegen den ehemaligen Bausenator Peter Strieder und Finanzsenator Thilo Sarrazin (beide SPD) hatte das oberste Berliner Gericht bereits vor einiger Zeit nicht zugelassen.

In dem Prozess vor der 26. Großen Strafkammer geht es nur noch am Rande um den eigentlichen Skandal, der die gesamte Berliner Landespolitik erschütterte. Es geht nicht um die fast ausschließlich öffentliche Finanzierung eines privaten Veranstaltungsortes.

Es geht auch nicht um die exorbitanten Kostensteigerungen, an deren Ende der Bau des Hauses mit dem eigenartigen futuristischen Zeltdach schließlich 33 Millionen Euro kostete, doppelt so viel wie ursprünglich vorgesehen. Und es geht auch nicht um die immer wieder nachgeschobenen öffentlichen Gelder in Millionenhöhe, um das gefährdete Prestigeprojekt des alten Westberlin doch noch zu retten.

Im Sitzungssaal 500 des Landgerichts geht es vielmehr darum, dass sich die 58-jährige Moessinger und ihr Geschäftspartner Waehl im Jahr 2001 zu hohe Gehälter genehmigt haben sollen.

Die Staatsanwaltschaft wirft beiden Untreue vor, weil sie als Stiftungsvorstände statt der vom zuständigen Tempodrom-Stiftungsrat beschlossenen 16.000 Mark zunächst 25.000 Mark und in den letzten sechs Monaten des Jahres 2001 noch 21.000 Mark monatlich bezogen haben sollen. Fünf andere Anklagepunkte, darunter auch der Vorwurf des Subventionsbetrugs, ließ das Gericht dagegen fallen.

Der Vorsitzende Richter Andreas Mosbacher begründete dies ausführlich. Das Gericht habe große Bedenken gehabt, ob eine Straftat vorliege, weil das Projekt "von politischer Seite - vor allem von Strieder - um jeden Preis durchgesetzt werden sollte". Kostensteigerungen in dieser Größenordnung seien in Berlin leider eher die Regel als die Ausnahme, fügte Mosbacher kühl hinzu.

Moessingers Verteidiger Peter Zuriel wies die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft zurück. Bei den beanstandeten Geldern, so argumentierte er, handele es sich um vertraglich vereinbarte Gehaltsnachzahlungen aus den Jahren 1999 und 2000. Von 1995 bis 1998 hätten beide zudem überhaupt kein Gehalt bezogen.

Für Irene Moessinger muss es trotz der entschärften Anklage ein bitterer Tag gewesen sein. Denn die Gründung des Tempodroms gehört zu den Heldenlegenden der Westberliner Subkultur. Mit einer Erbschaft von 800.000 Mark kaufte die damals 30-jährige Moessinger 1980 ein altes Zirkuszelt und stellte es an der Mauer zum Potsdamer Platz auf.

Vier Jahre später zog sie dann auf einen Parkplatz neben der Kongresshalle im Tiergarten. Im Tempodrom traten alle auf, die für die Westberliner Szene wichtig waren, unter ihnen Nick Cave, die Einstürzenden Neubauten oder die Beastie Boys. Der neue Standort wurde dem Tempodrom aber bald zum Verhängnis. 1992 entschieden der Bund und Berlin, dass das Kulturzelt nicht mit dem in der Nachbarschaft geplanten Kanzleramt zusammenpasse.

Der damalige Kreuzberger Bezirksbürgermeister und spätere Bausenator Peter Strieder schlug daraufhin das Gelände des ehemaligen Anhalter Bahnhofs als neuen Standort vor. Es sollte nur kein Zelt mehr sein, sondern eine zementierte Kathedrale der Alternativkultur. Baubeginn war im Jahr 2000. Die folgende Geschichte lässt sich im Rückblick nur mit der zu dieser Zeit weitverbreiteten Westberliner Mentalität erklären, nach der man sich die Dinge einfach leistet, egal was sie kosten.

Niemand hielt es für nötig, genau hinzuschauen. So stiegen die Kosten für das Projekt immer steiler an, von anfangs 16 Millionen Euro auf rund 33 Millionen. 2001 wurde das neue Tempodrom eröffnet, aber es blieb defizitär und ging 2002 in die Insolvenz. Zwei Jahre später musste Strieder im Zuge der Affäre seinen Hut nehmen. 2005 endete dann auch die Ära von Tempodrom-Gründerin Irene Moessinger. Sie ist heute arbeitslos, hat mehr als eine Million Schulden und lebt in Neukölln vom Arbeitslosengeld II.

Das Tempodrom dagegen funktioniert trotz der Querelen der Vergangenheit wieder ganz gut. Die Veranstaltungen sind oft ausverkauft, der Betrieb trägt sich selbst. Nur die hohen Baukosten werden sich wohl nie erwirtschaften lassen. Und am Kanzleramt? Da steht seit 2002 wieder ein Kulturzelt. Es heißt Tipi und ist etwas kleiner als das Tempodrom.

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SZ vom 10.01.2008/jkr
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