Berlinale-Vorführung:Im Gefängnis wird der rote Teppich ausgerollt

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Roter Teppich auf grünem Noppenboden: Regisseurin Nora Fingerscheidt, Hauptdarsteller Albrecht Schuch und Produzent Peter Hartwig haben ihren Film "Systemsprenger" in der JVA Plötzensee gezeigt. (Foto: Erik Weiss/Berlinale 2019)

Die Berlinale hat diesmal einen ungewöhnlichen Spielort: die JVA Plötzensee. Die Insassen müssen auch während der Kinovorstellung hinter Gittern und dicken Mauern bleiben, aber sie sehen Kunst, die sie im Innern berührt.

Von Verena Mayer, Berlin

Um zur Filmvorführung bei der Berlinale zu kommen, muss man erst durch eine schwere Gittertür. Man muss den Personalausweis zeigen, Taschen und Handy abgeben und wird von oben bis unten abgetastet. Dann geht es durch noch mehr schwere Türen, bis in eine Halle mit Leinwand, deren Fenster vergittert sind. Denn das hier ist kein normaler Kinosaal, sondern ein Gefängnis. Die Justizvollzugsanstalt in Berlin-Plötzensee nämlich, einem Viertel im Nordwesten der Hauptstadt, in dem sich Mauern und Stacheldraht über ganze Straßenzüge ziehen, und dazwischen reiht sich ein Klotz an den nächsten, Männergefängnis, offener Vollzug, Haftkrankenhaus, Jugendstrafanstalt. Hunderte Menschen sind hier eingesperrt.

Es ist später Nachmittag, im Gefängnis endet bereits der Tag. Es ist Zeit für den "Verschluss", die Gefangenen werden von der Arbeit zurück in ihre Zellen gebracht. Doch zwei Dutzend von ihnen gehen jetzt zur Berlinale. In einer Reihe, flankiert von mehreren Justizvollzugsbeamten. Es sind Männer, die betrogen oder gestohlen haben, die mit Drogen gehandelt oder jemanden schwer verletzt haben. Sie müssen hinter den schweren Türen warten. Aufstellen, durchzählen, dann werden sie zum Kinosaal geführt, in dem schon die Leute von draußen sitzen. Das typische Berlinale-Publikum, Kulturbegeisterte, Kritiker, Filmleute.

Kunst im Knast - die Idee ist nicht neu. Sie stammt aus den Siebzigerjahren, als man begann, Gefängnisse nicht mehr als Unorte zu begreifen, als Stadt in der Stadt, um die man einen weiten Bogen macht. Sondern als Teil der Gesellschaft, mit dem man leben muss. Inzwischen gibt es in den Haftanstalten Kulturinitiativen und Bildungsprogramme, das Berliner Gefängnistheater "aufBruch" stellt regelmäßig zusammen mit den Gefangenen Bühnenproduktionen auf die Beine. Oder es werden Filme gezeigt, wie an diesem Donnerstag im Rahmen der Berlinale.

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Der Leiter der Anstalt, Uwe Meyer-Odewald, steht am roten Teppich, der für die Gefangenen ausgelegt wurde, und begrüßt die Besucher. Die Gefangenen konnten sich melden, wahrscheinlich wären es mehr gewesen, wenn sie den "Terminator", "Star Wars" "oder irgendetwas mit Rambazamba" zeigen würden, sagt Meyer-Odewald. Andererseits: Zwei Dutzend von 360 Gefangenen, das entspricht ungefähr dem Anteil der Stadtbewohner, die zu den Berliner Filmfestspielen gehen.

Gezeigt wird an diesem Nachmittag im Gefängnis der Film "Systemsprenger", der als deutscher Beitrag im Wettbewerb der Berlinale läuft. Es geht um ein neunjähriges Mädchen, das schwere häusliche Gewalt erlebt hat und irgendwann selbst gewalttätig wird. Der Film zeichnet nach, wie das Kind von einer Einrichtung zur anderen geschoben wird, vom Heim in die Kinderpsychiatrie, vom Bauernhof in die Notunterkunft. Die überforderte Mutter will es nicht, die Jugendämter stoßen an ihre Grenzen.

Als im Gefängnis-Kino das Licht angeht, wird es emotional

Der Film erzählt davon, wie Kinder in einem Alter, in dem man sie eigentlich noch erreichen könnte, zu Problemfällen werden, mit denen das staatliche System nicht mehr zurechtkommt. Und bei denen die Gefahr groß ist, dass ihre Kindheit in der Kriminalität endet. Für den Film hat die Regisseurin Nora Fingscheidt jahrelang in diversen Einrichtungen recherchiert, sie hat mit Mitarbeiterinnen von Jugendämtern, Erzieherinnen und den betroffenen Kindern gesprochen und deren Schicksale zu einem Spielfilm verdichtet. Dementsprechend emotional wird es, als im Gefängnis-Kino schließlich das Licht wieder angeht und sich die Regisseurin mit ihrer Crew dem Publikum zur Diskussion stellt.

Ein Gefangener mit Vollbart steht auf und ruft "Bravo!", ein Mann mit Brille und Schiebermütze meldet sich und sagt: "Das spiegelt die Empathie-Unfähigkeit in unserer Gesellschaft." Dass man nämlich, wenn man nicht funktioniere, sofort irgendwohin weggeschoben werde. Und wenn man randaliere, wie das kleine Mädchen im Film, dann lande man in Isolation, "das ist im Leben draußen genauso wie im Knast".

Auch die Darstellerin des kleinen Mädchens, die zehn Jahre alte Helena Zengel, ist gekommen und beantwortet Fragen des Publikums. Ein Gefangener will wissen, ob es "psychisch sehr anstrengend" gewesen sei, so eine Rolle zu verkörpern. "So etwas kann ja nicht einmal ein Erwachsener spielen." Helena sagt: "Danke für das Kompliment", und dass es eigentlich gar nicht so schwer gewesen sei, nur das Weinen manchmal. Die Gefangenen hören sich das alles sehr konzentriert an, auch dann noch, als sich die Filmkritiker im Publikum zu Wort melden und die Filmstudenten, die Fragen zu Kameraeinstellungen haben. So wie man nur zuhört, wenn einen ein Kunstwerk erreicht hat. Weil es von etwas erzählt, das man selbst sein könnte.

© SZ vom 16.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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