Süddeutsche Zeitung

Prozess:13 Jahre nach Georgines Tod

In Berlin steht der mutmaßliche Mörder eines Mädchens vor Gericht. Erst durch drei verdeckte Ermittler konnte man den tatverdächtigen Ali K. finden.

Von Verena Mayer, Berlin

An einem Septembernachmittag im Jahr 2006 steigt die 14-jährige Georgine Krüger nach der Schule in den Bus, fährt drei Stationen und läuft die Straße zu ihrem Wohnhaus entlang. Doch dort taucht sie nicht auf, ihre Großmutter ruft die Polizei. Für die ist das ein typischer Vermisstenfall, ein Teenager, der nicht pünktlich nach Hause kommt, aber auch nicht weit sein kann, Georgines Handy ist mit der Funkzelle in unmittelbarer Nähe verbunden. Und doch sollte es zwölf Jahre dauern, bis sich im vergangenen Dezember die erste Spur zu dem Mädchen fand.

Die führt in die Nachbarschaft, zu Ali K., der fünf Häuser weiter wohnt. Er soll Georgine Krüger an jenem Septembertag gebeten haben, ihm beim Tütentragen zu helfen. In seinem Keller soll er sie mit einem metallischen Gegenstand auf den Kopf geschlagen und vergewaltigt haben. Dann soll er das benommene Mädchen erwürgt haben, um nicht entdeckt zu werden.

Am Mittwoch begann nun vor dem Berliner Landgericht der Mordprozess. Ali K. ist ein unscheinbarer Mann im karierten Hemd, 44, verheiratet, drei Kinder. Sagen will er nichts, nur hin und wieder lehnt er sich nach vorne und guckt in den Zuschauerraum, in dem Nachbarn und Verwandte sitzen. Und so wird nun ein Indizienprozess ans Licht bringen müssen, wie aus einem Vermisstenfall einer der mysteriösesten Cold Cases werden konnte, der erst 2018 aufgeklärt wurde. Durch drei verdeckte Ermittler nämlich, die das Vertrauen von Ali K. gewinnen konnten. Einem von ihnen erzählte Ali K., er habe Georgines Leiche in einen der Müllcontainer auf seinem Hof geworfen und ihr Handy die Toilette hinuntergespült.

Doch erst einmal geht es an diesem Verhandlungstag um Georgine selbst. Ein selbstbewusstes Mädchen sei sie gewesen, sagt ein Ermittler, der von Anfang an mit dem Fall beschäftigt war und in Kontakt mit der Familie stand. Georgine hatte eine Halbschwester und einen Halbbruder, zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter lebte sie in einer Wohnung in Berlin-Moabit. Ihr großer Traum war es, Model oder Schauspielerin zu werden. Wenige Tage vor ihrem Verschwinden hatte sie ihre erste Anfrage von einer Casting-Agentur erhalten, man wollte sie für eine Rolle in der Serie "Türkisch für Anfänger" besetzen und wartete auf eine Zusage. Doch diese kam niemals, Georgines Handy wurde um 14 Uhr des Tattages abgeschaltet.

Ali K. suchte die Nähe von jungen Mädchen - das war bekannt

Über Stunden erzählt der Ermittler vor Gericht von der Suche nach dem Mädchen. Wie man Freunde, Mitschüler, Lehrer und Bekannte aus Chatforen abklapperte, die Alibis von 150 Sexualstraftätern überprüfte, Hinweisen aus München, Köln und Kiel nachging. Wie man durch Mantrailer-Hunde in ein abgelegenes Waldstück weit außerhalb der Stadt geführt wurde, eine Schlossruine durchsuchte und verschlossene Stasi-Bunker öffnen ließ, vergeblich. Dabei lag die Lösung des Falles immer nahe. Ali K. war seit Jahren dafür bekannt, die Nähe von jungen Mädchen zu suchen. Immer wieder sprach er Schülerinnen auf der Straße an, machte anzügliche Bemerkungen oder folgte ihnen. Einmal spielte er mit Hundewelpen, um in Kontakt mit Kindern zu kommen, mehrere Male versuchte er, Mädchen in sein Auto zu locken.

Bereits 2005 kam er in Kontakt mit der Polizei, nachdem er versucht hatte, eine Zehnjährige in sein Auto zu zerren, das Verfahren wurde allerdings eingestellt. Und spätestens seit 2011 war er als Straftäter aktenkundig. Da hatte er ein Mädchen aus seiner Straße angesprochen, das in einer Wohngemeinschaft für Jugendliche lebte. Er fragte die 17-Jährige, ob sie ein Handy haben wolle, ging mit ihr in seinen Keller und versuchte, sie dort zu vergewaltigen. Nur weil sie sagte, sie sei noch Jungfrau, ließ er von ihr ab. Die 17-Jährige habe sich noch gut an den Keller erinnert, sagt der Zeuge: mit Tisch, Sofa und Verdunkelungen, so, als werde er nicht nur zum Lagern von Sachen gebraucht. 2012 wurde Ali K. deswegen verurteilt, 2016 erfuhr der für Georgine zuständige Ermittler davon und ließ sich die Akte kommen.

Er vernahm das betroffene Mädchen und ihre Freundinnen und erfuhr, dass Ali K. sich immer an Kinder aus der Nachbarschaft heranmachte, die ihn zumindest vom Sehen kannten und nichts Böses ahnten. "Das hat einen hellwach werden lassen." 2017 entschied man sich, verdeckte Ermittler auf Ali K. anzusetzen. Warum erst so spät?, fragt der Vorsitzende Richter. "Weil ich es nicht früher erfahren habe", sagt der Polizeibeamte. Die vielen Jahre, die vergingen, bis die Ermittler einem naheliegenden Verdacht nachgingen - auch um sie wird es in diesem Mordprozess gehen. Ein Urteil soll im November fallen.

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SZ vom 08.08.2019
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