Berlin:Bitte klopfen

Berlin: Geschlossen? Offen? Ein "Späti" am Sonntag. Was einst als DDR-Spätverkaufsstelle begann, hat in Berlin längst Kultstatus.

Geschlossen? Offen? Ein "Späti" am Sonntag. Was einst als DDR-Spätverkaufsstelle begann, hat in Berlin längst Kultstatus.

(Foto: imago/Uwe Steinert)

Der "Spätkauf" ist ein wichtiger Teil des sonntäglichen Lebens in Berlin. Neuerdings aber wird der Ladenschluss streng kontrolliert. Sterben die Spätis deshalb bald aus?

Von Korbinian Eisenberger

Am Supermarkt schlendern die Leute vorbei, hinein in den Späti, wo die Preisschilder von Hand geschrieben sind. Sonntagnachmittag in Berlin, Dal Osman, Berliner mit türkischem Akzent, kassiert ab, reckt sich nach Zigarettenschachteln und späht immer wieder durchs Fenster. Plötzlich klingelt das Telefon, Osman springt von seinem Schemel und hebt den Hörer ab: Das Ordnungsamt ist wieder unterwegs. "Manchmal rufen Kollegen an und warnen mich, damit ich noch rechtzeitig abschließen kann", sagt Osman und entkorkt einem Gast die Weinflasche. Nur ruhig jetzt, noch ist von den Männern in Uniform nichts zu sehen.

Die Szene in Osmans Kiosk ist zufällig gewählt, sie spielt sich ungefähr so immer wieder ab: An jedem Sonntag springt irgendwo in Berlin irgendjemand wie Dal Osman zu irgendeinem Telefon und wird gewarnt. Denn es gibt gerade einen Streit um die Ladenöffnungszeiten, es geht um den Sonntag, den wichtigsten Tag für die rund tausend Kleinläden, die "Spätkauf" heißen oder schlicht "Späti". Vor drei Jahren hatte ein Späti-Besitzer geklagt, um seinen Laden am 1. Mai offiziell öffnen zu dürfen, also an einem Feiertag - und statt einer Lockerung des Ladenöffnungsgesetzes hat er genau das Gegenteil erreicht. Dass die Spätis seitdem am Sonntag eigentlich geschlossen haben müssten, wusste lange Zeit kaum einer, selbst die Behörden interessierte der kollektive Regelbruch nicht. Mittlerweile aber nehmen manche Ordnungsämter die Paragrafen ernst.

Im Stadtteil Neukölln, wo das hippe Berliner Nachtleben mit der Multikulti-Nachbarschaft verschmilzt, kontrollieren die Uniformierten nun fast jeden Sonntag. Von den Verkäufern, die hinter den Ladentheken der Spätis in der Hermannstraße stehen, können fast alle von Überraschungsbesuchen berichten. Die Männer vom Ordnungsamt seien zwar höflich, erzählt etwa Alex vom "Kiosk 44", er duze sie sogar. Wie die meisten in dieser Straße hat aber auch er schon häufiger zahlen müssen. 250 bis 2500 Euro fallen für einen Verstoß an, bei mehrmaligen Vergehen droht die Zwangsschließung. Trotzdem bleiben die meisten Läden am Sonntag offen. "Wenn Kaufland zu hat, muss ich was verkaufen", sagt Alex. "Sonst kann ich gleich dichtmachen."

Für Nicht-Berliner mag der Berliner Späti-Ärger übertrieben klingen; Nicht-Berliner schaffen es schließlich auch, ihre Einkäufe bis Samstagabend zu erledigen. Tatsächlich schätzen viele Berliner ihre Spätis aber nicht nur aus Bequemlichkeit. Die Verkäufer und ihre Kunden kennen sich meist mit Namen, wer will, lässt seine Einkäufe anschreiben, so wie andere in der Dorfkneipe - nur dass dort die Zeche teurer kommt. In den Spätis sitzen die Leute gerne mal beisammen wie Stammtischbrüder im Wirtshaus, zu diesem Zweck sind vor vielen Läden Tischgarnituren aufgestellt. Die Spätis sind ein wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens an Berliner Sonntagen, für die Gastronomie ist das natürlich ein Problem. Wer in Berlin heimisch geworden ist, also einen Kiez hat, der hat meistens auch seinen Stamm-Späti.

Anderer Ort, andere Szene, es ist inzwischen Abend in Berlin. In "Gizem's Getränkeshop" steigt aus einem Hinterzimmer Zigarettenqualm auf. Hier sitzt Ridvan Tarakci in den Abendstunden mit seinen Kunden zusammen. Vor knapp zwei Jahren sei er aus der Türkei gekommen, sagt der 45-Jährige in gebrochenem Deutsch, während ein Mann mit Punk-Frisur eine Packung Zigaretten bezahlt. "40 Cent verdiene ich an einer Schachtel", sagt Tarakci, seit er in Berlin sei, gehe es ihm und seiner Familie besser. "Die Konkurrenz ist hart, deswegen stehe ich jeden Tag im Laden", sagt er. Auch das ist die Geschichte der Spätis und ihrer Betreiber: von Hoffnung, und von der Angst, das Erreichte zu verlieren.

Christina Jurgeit ist wegen der aktuellen Entwicklungen in Sorge. Weil die 28-Jährige um die Existenz der Spätis fürchtet, hat sie eine Petition gestartet, mit der sie den Berliner Senat unter Druck setzen möchte. Jurgeit fordert darin, Spätverkaufsstellen in Berlin mit Tankstellen und Bahnhofsläden gleichzustellen, um so auch am Sonntag verkaufen zu dürfen. Ansonsten befürchtet Jurgeit, dass wegen der Bußgelder immer mehr Läden ganz schließen müssen. Mittlerweile hat Jurgeit von den 300 000 Neuköllnern knapp 40 000 Unterschriften gesammelt.

Im Gegensatz zu Tankstellen und Bahnhofskiosken verpflegen Spätis offiziell keine Reisenden

Eine, gegen die sich der Groll vieler Späti-Besitzer richtet, ist die Neuköllner Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey, die für das Ordnungsamt verantwortlich ist. Es gäbe "keine besondere Verfolgungsstrategie" durch das Ordnungsamt Neukölln, erklärt die SPD-Politikerin in einer Stellungnahme. "Bei der Feststellung von Verstößen wird hier genauso geahndet wie zum Beispiel bei Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung." Die Anzahl und Art der Kontrollen in den Berliner Ordnungsämtern sei "oftmals anlassbezogen", so Giffey. Die meisten Späti-Einsätze kämen durch Nachkontrollen oder Beschwerden zustande. Faktisch ist die Neuköllner Behörde klar im Recht. Im Berliner Ladenöffnungsgesetz steht, dass Verkaufsstellen an Sonn- und Feiertagen geschlossen sein müssen. Es ist ein bisschen kompliziert, weil Zeitschriftenläden, Backshops, Tankstellen und Touristengeschäfte davon ausgenommen sind. Und, immerhin: An zehn von 51 Sonntagen im Jahr dürfen auch Spätis und andere Geschäfte öffnen, acht davon sind berlinweit fest datiert, zwei frei wählbar.

Beim Ladenöffnungsgesetz ist Berlin noch eines der liberalsten Bundesländer, in Bayern gibt es etwa nur vier verkaufsoffene Sonntage im Jahr. Andere Länder sind grundsätzlich weniger streng, Großbritanniens Supermärkte dürfen an sieben Tagen die Woche öffnen, in den USA oder in Australien sogar täglich 24 Stunden. Wer in diesen Ländern im Einzelhandel arbeitet, muss Sonntags- und Nachtschichten übernehmen, was hierzulande zum Schutz der Arbeitnehmer verboten ist.

Wie realistisch ist also das Ziel von Jurgeits Petition? Nils Busch-Petersen, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Berlin-Brandenburg, sagt: "Tankstellen und Bahnhofsläden sind gesetzlich anders gestellt, weil sie Reisende verpflegen." Zwar sei der Reisebedarf am Sortiment auch nicht immer eindeutig zu erkennen, dass Spätis aber den gleichen Status bekommen, hält er für "juristisch unrealistisch". Die Späti-Szene hat auch deshalb eigene Strategien entwickelt. Manche Ladenbesitzer öffnen ihre Türen sonntags nur noch bei bestimmten Klopfzeichen, und in "Gizem's Getränkeshop" gehen sie mittlerweile so weit, dass einer vor dem Laden im Auto sitzt und Alarm schlägt. "Ich kann mir keine Strafe leisten", sagt Tarakci.

Nicht, dass es ihm so ergeht wie dem Späti die Straße runter. Dort sitzt ein grauhaariger Mann mit seinem Neffen beim Kartenspielen. 3500 Euro hätten sie dem Ordnungsamt an Bußgeldern gezahlt, erzählt er, bis der Brief kam und er schließen musste. Seinen Namen müsse er für sich behalten, sagt der Mann und erklärt dann, warum. "Wir haben wieder aufgemacht", sagt er, an der Adresse habe sich nichts geändert. Nur auf dem Schild über der Eingangstür und im Register der Behörden, da würde jetzt ein anderer Name stehen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: