Süddeutsche Zeitung

Norwegen:"Spionagewal" könnte aus Therapiezentrum stammen

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Der mysteriöse, kürzlich vor Norwegen aufgetauchte Beluga ist vielleicht doch kein feindlicher Spion. Ein ehemaliger Konsul behauptet, er kenne das Tier aus seiner Zeit in Russland.

Von Kai Strittmatter, Kopenhagen

Norwegen hat seit einigen Tagen einen mysteriösen Gast. Dass er aus Russland kommt und sich heimlich über die Grenze in norwegische Gewässer gestohlen hat, bezweifelt niemand mehr. "Spionagewal", so hatten Medien den Beluga getauft, der da vergangene Woche mit einem Mal inmitten norwegischer Fischer aufgetaucht war, mit umgeschnalltem Gurtzeug, an dem die Halterung einer Action-Kamera befestigt war, beschriftet mit "Equipment St. Petersburg".

Der angeblich Spion kann ganz offensichtlich von den Norwegern ebenso wenig genug kriegen wie die von ihm. Der staatliche Rundfunksender NRK berichtet seit der ersten Sichtung fast täglich, und ließ sein Publikum in einer großen Umfrage über einen Namen für den Weißwal abstimmen. Seither heißt er "Hvaldimir", zusammengesetzt aus dem norwegischen "Hval" für Wal und dem russischen Vornamen Wladimir. Eine regelrechte Liebesbeziehung hat sich da entwickelt - Spionageverdacht hin oder her. Der Wal besucht immer wieder die Küste am Nordkap, schwimmt in den Hafen des kleinen Fischerdorfes Tufjord und vollführt kleine Kunststückchen für die Bewohner, lässt sich tätscheln oder holt Ringe vom Meeresboden herauf.

Nun ist eine neue Theorie dazu aufgetaucht, warum sich das Tier so ungewöhnlich zahm verhält.

Am Dienstag wartete die Fischerzeitung Fiskeribladet mit einer neuen Wendung in der Arktissaga auf. "Es kann nicht mehr ausgeschlossen werden", enthüllte das Blatt, "dass 'Hvaldimir' in Wirklichkeit 'Semjon' heißt". Und dass er - es kommt noch besser - gar kein Spionagewal ist, sondern ein Therapiewal. Einer, der in Russland mit benachteiligten Kindern gearbeitet hat.

Das wäre nun schon eine Wendung, die sich kein Hollywood-Drehbuchschreiber kitschiger hätte ausdenken können. Oft hat aber sowieso das Leben die besseren Geschichten parat - und so bietet das Fiskeribladet für seine Recherchen einen Kronzeugen auf: Morten Vikeby. Der war einst norwegischer Konsul in Murmansk, vor allem aber war er auch einmal Reporter für die Fischereizeitung gewesen - und hatte als solcher tatsächlich am 29. September 2008 eine große Geschichte über ein russisches Wassersportzentrum an der Küste des Weißen Meeres zwischen der Oblast Murmansk und der Republik Karelien geschrieben.

Das Zentrum hatte damals einen Belugawal aufgepäppelt, der zuvor offenbar von angriffslustigen Robben übel zugerichtet worden war. Ausbilder dort tauften den Wal "Semjon" und brachten ihm Tricks bei. Zuerst zur Belustigung ihrer Kunden, sehr schnell aber kamen Schüler und Kinder mit psychischen Störungen angereist und der Besuch beim Beluga wurde Teil therapeutischer Behandlungen.

"Ich habe den Wal wiedererkannt", sagte Morten Vikeby seiner alten Zeitung. Zumindest glaubt er es, mit hundertprozentiger Sicherheit kann auch er nicht dienen. Aber er verweist auf die Kunststückchen, die Tatsache, dass der Wal die Nähe von Menschen sucht oder das Brustgeschirr: Mit einem solchen Geschirr habe "Semion" damals Boote gezogen, in denen Kinder saßen.

Auf der Webseite des Fiskeribladet kann man ein Video sehen, das Vikeby damals von dem Wal und den Kindern in Russland gedreht hatte. Norwegens offizielle Walbeobachter begrüßten in einer ersten Reaktion die neue Theorie, die aus einem feindlichen Spion einen Kindertherapeuten macht. Eine "fantastische" Nachricht sei das, sagte Meeresbiologe Jørgen Wiig von der Fischereidirektion dem Fiskeribladet: "Wir brachten ihn bislang immer mit Spionage oder Krieg in Verbindung, und nun sieht es so aus, als sei er in Wirklichkeit ausgebildet, um Gutes zu tun."

In Russland vermisst offenbar niemand einen Beluga

Egal, ob nun Hvaldemir oder Semjon: Norwegens Behörden bleiben bei ihrer Haltung, dass der Wal keine Küstenattraktion auf Dauer bleiben soll. Wie der NRK berichtete, wird unter anderem überlegt, den Beluga nach Island zu transportieren, dort gibt es das weltweit erste von Menschen eingerichtete Walrefugium auf hoher See, dorthin sind auch gerade zwei aus einem chinesischen Delfinarium befreite Belugas unterwegs.

Die Nähe zu Menschen sei stets unnatürlich für einen Wal, sagte Meeresbiologe Wiig zum NRK: "Solche Wale können auch müde und dann aggressiv werden. Außerdem kann er durch Boote verletzt werden." Allerdings koste ein solcher Transport viel Geld, die Finanzierung sei noch nicht klar. Ex-Konsul Morten Vikeby findet derweil, der Wal solle zurück in das russische Sport- und Therapiezentrum. Norwegische Medien merkten allerdings an, dass bislang auch aus Russland niemand einen Belugawal als vermisst gemeldet hat - keinen schwimmenden Spion und keinen Semjon.

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