Süddeutsche Zeitung

Kinder mit Behinderung:"Weil wir es nicht mehr schaffen"

Iris Mydlachs Kind hat eine Behinderung. Das bedeutet: viele Termine bei Ärzten und Spezialisten. Dafür sollten pflegende Eltern Sonderurlaubstage bekommen, fordert sie - und hat eine Petition gestartet.

Von Veronika Wulf

Iris Mydlach hat mal nachgezählt: An 50 Tagen sind sie oder ihr Mann in diesem Jahr mit ihrem Sohn Tim zu Ärzten oder Spezialisten gefahren. Zur Physiotherapie, zu Untersuchungen, um den Rollstuhl, den Rollator, die Orthese anpassen zu lassen. Auf ihrem Instagram-Profil beschreibt sie sich als "die, die immer hofft, dass der Tag doch mehr Stunden hat".

Tim kam vor sechs Jahren mit einem Gehirnschaden zur Welt, weil sich im Mutterleib die Nabelschnur um seinen Hals gewickelt hatte. Infantile Cerebralparese lautete die Diagnose. Was das bedeutete, fanden die Eltern erst in den Monaten und Jahren nach der Geburt heraus: Tim kann sprechen, aber nicht mehr als ein paar Schritte gehen, er kann sich nicht hochziehen oder alleine sitzen. Seine Eltern müssen ihn bis heute aus dem Bett heben, ihn wickeln und anziehen. "Er braucht unsere Hilfe bei allem, was er machen möchte", sagt Iris Mydlach.

Seit 2021 arbeitet sie wieder in Vollzeit als Journalistin. "Ich merke jetzt so richtig, was es bedeutet, ständig bei der Arbeit zu fehlen." Und das, obwohl Tim vier Tage in der Woche in der Kita ist und ihr Mann ihn am fünften Tag zur Physiotherapie fährt, eine Stunde hin, eine dort, eine zurück. Obwohl sie einen sehr verständnisvollen Arbeitgeber hat, im Home-Office arbeiten und auch mal einen Kindertermin einschieben kann. "Bei einer Krankenschwester geht das nicht", sagt sie.

Deshalb haben sie und Simone Braunsdorf-Kremer, ebenfalls Mutter eines schwerbehinderten Kindes, eine Petition gestartet. Sie fordern zehn Tage staatlich finanzierten Sonderurlaub für Eltern, die ein behindertes Kind pflegen. Fast 50 000 Menschen haben auf der Plattform change.org unterschrieben. Die beiden Mütter waren überwältigt von dem Zuspruch, doch geändert hat sich dadurch nichts. Deshalb haben sie nun eine offizielle Petition beim Bundestag eingereicht. Wenn sie dort bis Ende November genauso viele Unterstützer finden, werden sie in einer öffentlichen Ausschusssitzung angehört. Bislang haben etwa 11 700 Menschen unterschrieben, unter ihnen viele Eltern, die selbst betroffen sind.

Warum die bestehenden Hilfen nicht greifen

Der Sonderurlaub soll allen Angestellten und Selbständigen zustehen, deren Kind mindestens Pflegegrad eins hat, damit sie zum Arzt, zum Sanitätshaus oder zur Therapeutin fahren können, die nun mal meistens nur tagsüber Termine vergeben. Die betroffenen Eltern könnten sich dafür natürlich regulären Urlaub nehmen, doch der ist nicht ohne Grund zur Erholung gedacht. Der Gesetzgeber hat zahlreiche andere Hilfen eingerichtet, doch keine würde für Fälle wie ihren greifen, sagt Mydlach.

Das Pflegeunterstützungsgeld etwa, dank dessen man zehn bezahlte freie Tage bekommt, ist für akute, unvorhergesehene Fälle gedacht und kann nur am Stück genommen werden. Oder die bis zu sechs Monate Pflegezeit, bei der man jedoch nur ein Darlehen bekommt, das komplett zurückgezahlt werden muss. Gleiches gilt für die Familienpflegezeit, in der man sich einmalig bis zu zwei Jahre freistellen lassen kann - unbezahlt. Das hat Iris Mydlach auch getan. "Das waren zwei extrem wertvolle Jahre, aber was ist mit den anderen 16, bis Tim erwachsen ist?"

Die 30 Kinderkrankentage, die sich gesetzlich versicherte Eltern seit der Pandemie pro Jahr nehmen können, sind für solche Termine ebenfalls nicht vorgesehen. "Das Kind muss gesund sein, um zum EEG oder ins Sanitätshaus zu gehen, sonst wird man nicht behandelt", sagt Mydlach. Außerdem wird Tim ja auch mal krank. "Viele behinderte Kinder haben mit dem Immunsystem zu kämpfen. Da können wir die Kinderkrankentage nicht in den Sanitätshäusern verballern", sagt sie.

Die Postbotin ging erst nach acht Jahren mit ihrem Kind in die Reha

"Wir brauchen eine Lösung, weil wir es nicht mehr schaffen und teilweise gar nicht mehr machen", sagt Mydlach. Da war zum Beispiel die Postbotin, die sie in einer Rehaklinik getroffen hat: Sie war jahrelang mit ihrem behinderten Kind nicht in die Reha gegangen, weil es mit ihrem Job nicht zu vereinbaren war - erst als sie einen unbefristeten Arbeitsvertrag hatte. Da war das Kind schon acht Jahre alt.

Auch die Bundestagsabgeordnete Corinna Rüffer sieht Handlungsbedarf. Sie ist Mitglied im Petitionsausschuss und ist für die Grünen-Fraktion zuständig für Behindertenpolitik. "Eltern mit pflegebedürftigen Kindern stemmen eine enorme Doppelbelastung von Familie und Beruf oder können aufgrund des Pflegebedarfs gar nicht arbeiten und müssen ständig mit einer kafkaesken Bürokratie um Pflege- und Hilfsmittel für ihr Kind kämpfen", schreibt sie auf Nachfrage. Im Koalitionsvertrag seien deshalb Entlastungen geplant, darunter auch ein "unbürokratischer Zugang zu Leistungen und eine Abfederung pflegebedingten Arbeitsausfalls, sowohl finanziell als auch zeitlich". Die Petition von Iris Mydlach werde bei den weiteren Verhandlungen berücksichtigt.

Bis Ende November läuft sie noch. "Für sein Kind tut man natürlich alles", sagt Iris Mydlach. Viele Eltern arbeiteten etwa weniger oder gar nicht, hätten dadurch weniger Geld, bekämen weniger Rente. "Aber es ist halt ungerecht."

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