Bayerische Wirtshaus-Kultur:Das Leben ist wie eine Lawine

Die Welt ist in Unordnung, ganz besonders im Hinblick aufs Wirtshaus: Keiner weiß, ob es mit der Traditionsstätte bergab geht oder bergauf. Von Hermann Unterstöger

Von Hermann Unterstöger

Eckertshof, im März - Es gibt Konstellationen, bei denen man sich nichts anderes denken kann, als dass die Welt noch in Ordnung ist. Zum Beispiel: Wenn die CSU-nahe Hanns-Seidl-Stiftung im winterlich verschneiten Wildbad Kreuth ein Seminar zur Landesgeschichte abhält, das den Titel "Kirche und Wirtshaus" trägt, und wenn dabei der Neutraublinger Sprüchesammler Josef Fendl den gemütlichen Abend im "Alten Bad" gestaltet.

Fendls Repertoire an bäuerlichen Sprüchen ist mittlerweile unüberschaubar, und es finden sich darin auch Materialien zu Kirche und Wirtshaus. Eine dieser Schnurren lautet so: "Nachher geh i halt wieder nei", sagte jener Bierdimpfl, den der Pfarrer, wie er ihn aus dem Wirtshaus kommen sah, zur Umkehr ermahnt hatte.

Die Welt ist aber in Unordnung, ganz besonders im Hinblick aufs Wirtshaus. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband hat Insolvenzzahlen, die einen deutlichen Aufwärtstrend zeigen, und man vertritt dort die Ansicht, dass die Gastwirtschaft mit der Gesamtwirtschaft gleichen Schritt hält, also stolpert.

Apokalyptischer Abgesang

2004 begann in München mit einem Klagelied, wie man es in dieser Deutlichkeit nicht in Erinnerung hatte. Ertönt war es ja schon öfter, und insofern war einem der Tenor durchaus geläufig: dass es mit der Wirtshauskultur den Bach hinuntergehe und dass, wo solches geschieht, die Gemeinschaft in ihrer Substanz bedroht sei.

Diesmal erklang es auf fast apokalyptische Art, was unter anderem dadurch bewirkt wurde, dass Oberbürgermeister Ude einen Mangel an Herzlichkeit konstatierte und dass ungefähr zur selben Zeit auch der Untergang der Weißwurst nicht völlig ausgeschlossen werden konnte.

Tradition zwischen Kirche und Wirtshaus

Das Seminar in Kreuth wollte übrigens keineswegs die Pfarrer dazu ermuntern, flüchtige Zecher in die Gaststuben zurückzuscheuchen. "Kirche und Wirtshaus" ist vielmehr eine Aktion, die auf Wiederherstellung der durch die Ungunst der Zeitläufte zerfledderten Tradition abzielt, den Besuch der Kirche mit dem des Wirtshauses auf eine für Seele und Leib gleichermaßen zuträgliche Weise zu verquicken.

Erfinder und Motor ist der Regensburger Heimatpfleger Werner Chrobak, der als studierter Theologe und geselliger Mensch zu beiden Sphären Zugang hat. Wenn es nach ihm geht, soll sich ein möglichst dichtes Netz von Fachleuten bilden, die in der Lage sind, den auf Labung Erpichten sowohl die Kirche kompetent zu erklären als auch eine tüchtige Brotzeit zukommen zu lassen.

München ist, als Hauptstadt Bayerns, auch Hauptstadt des Wirtejammerns, zudem gastronomisch nicht gerade landestypisch organisiert. Wieso also, wo wir schon eine Regensburger Initiative am Wickel haben, nicht gleich die von hier aus regierte Oberpfalz nach dem Zustand der Wirtshauskultur ausforschen?

Nicht, dass sie soviel anders wäre als die übrigen bayerischen Regierungsbezirke, aber an kerniger Bodenständigkeit tut es ihr auch keiner zuvor.

Kernige Beziehungsgeflechte

Wie es sich fügt, trifft man bei Ulrich Korb auf Franz Xaver Scheuerer. Korb, ein Mann von Umtriebigkeit und krausem Witz, leitet die Bezirksgeschäftsstelle des Hotel- und Gaststättenverbandes.

Scheuerer hingegen, der Bezirksheimatpfleger, ist die Ruhe selbst, hat aber eine Tochter, Daniele mit Namen, die bei den "Tanngrindler Musikanten" die Klarinette spielt.

Von ihr wiederum weiß er, dass dieser Tage beim Pollinger in Eckertshof geschlachtet und dazu ein musikalischer Frühschoppen ausgerichtet wird.

Eckertshof liegt zwischen Hemau und Dietfurt, unweit der schönen Wallfahrtskirche Eichlberg, der vom Sturm "Wiebke" 1990 die Turmhaube abgerissen wurde. Dank dem Walten der Hl. Dreifaltigkeit, der die Wallfahrt gilt, zerschlug die Haube nur das Kirchendach, und diesem guten Einfluss ist es, neben handwerklicher Kunst, wohl auch zu danken, dass Barbara und Josef Pollinger Blut- und Leberwürste zuwege bringen, die landauf, landab ihresgleichen suchen. Insofern war der Erfolg des auf einen Samstagvormittag angesetzten Schlachtfestes ohnedies gesichert.

Ausgewachsene Wirtshaus-Initiative

Mit den "Tanngrindlern" aber wurde es zu einem die Räume rappeldicht füllenden Ereignis, um nicht zu sagen Event. Es schien, als ob die zwischen alt und neu virtuos agierende Musik auch für das von Krisen heimgesuchte Gastgewerbe vorbildhaft sei: Überleben könnte, wer das Herkommen ehrt, sich dabei aber nicht zu schade ist, mit Aktionen (wenn's sein muss, auch mit Spektakel) auf sich und sein Haus aufmerksam zu machen.

Was da bei den Pollingers stattfand, hat sich unter der Marke "Musikantenfreundliches Wirtshaus" längst zu einer bayernweit wirkenden Initiative ausgewachsen, derentwegen schon mancher wieder hinter dem Ofen hervorgekommen ist.

Konkurrenz schläft nicht

Wenn die Wirte etwas gar nicht leiden können, dann jene frei schweifende und schwer fassbare Konkurrenz, die sich unter dem Begriff "Vereinsgastronomie" zusammenfassen lässt. Unterhält man sich mit Leuten vom Verband, bricht es einem förmlich entgegen: eine Flut von Verbitterung über das entgangene Geschäft, von Verwunderung darüber, dass sich die Finanzämter den gigantischen Steuerausfall bieten lassen, von Sarkasmus über die Willfährigkeit örtlicher Politiker, die alles und jedes genehmigen oder durchgehen lassen, nur um sich das Wohlwollen der Vereine nicht zu verscherzen.

Schätzungen zufolge gibt es in Bayern jährlich 160.000 solcher Feste, bei denen schwarz Gewinn gemacht und auf die bei Wirten streng geforderte Hygiene gepfiffen wird. Ludwig "Wiggerl" Hagn vom Bayerischen Hotel- und Gaststättenverband wird richtiggehend ätzend, wenn er auf Sausen wie das "Hully-Gully-Drecksau-Fest" zu reden kommt oder darauf, dass an Karfreitagen, die der Wirt still zu begehen hat, anderswo mit Juhu und Trara 1200 Steckerlfische verputzt werden.

Das Land birst von Stadelfesten, Beachpartys und Kiesgrubentreffs, wo mit dem Alkohol so großzügig umgegangen wird, dass jeder Wirt, der es damit ähnlich hielte, für seine Konzession fürchten müsste. Die Redaktion des Gastronomie-Reports verwunderte sich dieser Tage außerordentlich über die Après-Ski-Party eines im Flachland operierenden Geflügelzuchtvereins. In der aktuellen Nummer dieses flotten Blattes wird über eine Umfrage berichtet: 73 Prozent der Wirte wären bereit, sich gegen die Schwarzgastronomie zu erheben, sei es mit anonymen Anzeigen, sei es mit Demos oder sei es (und dafür plädiert denn doch die Überzahl) im Gespräch mit den Vereinen.

Zu diesem Thema finden sich nahe beieinander zwei Belegfälle. Der eine ist die "Weiberwirtschaft" in Kalsing bei Roding, die so heißt, weil ein paar Frauen dort das Regiment führen. Früher stand da ein anderes Wirtshaus, und als es aufgegeben wurde, erfüllten sich die Stangls für viel Geld den Traum, neben ihrem feinmechanischen Betrieb auch ein Gasthaus zu führen.

"D' Weiberwirtschaft", wie das neue Etablissement sich nennt, gilt der guten Küche, der Gemütlichkeit und natürlich der feschen Weiber halber als weitum bekannter Geheimtipp, weswegen die Wirtsleute vorderhand nur einen Schmerz haben: dass man ihnen, die dem Dorf wieder eine kommunikative Mitte gaben, im Zug der Dorferneuerung ein Gemeindehaus vor die Nase gesetzt hat. Die Stangls wollen - was sollten sie auch sonst tun? - das Gespräch suchen.

Ohne Wirtschaft kein Dorfleben

Von so einer Konkurrenz kann in Rhanwalting, Gemeinde Waffenbrunn, keine Rede sein. Auch dort brach die alte Wirtschaft von einem Tag auf den anderen weg, doch auf einen Ersatz wartete man vergebens. So gingen ein paar Jahre ins Land, bis sich der 1991 gegründete Dorfverein des Problems annahm und bei den Rhanwaltingern das Gefühl dafür wachrief, dass ein Dorf ohne Dorfleben kein Dorf ist und dass der netteste Neubürger fremd bleibt, solange man ihn nicht zu einem Fasching oder einer Maiandacht heranziehen kann.

Bei diesem Stand der Dinge erwies es sich als Segen, dass die Rhanwaltinger Feuerwehr ihre Eigenständigkeit bewahrt hatte und nun ein neues Vereinsheim brauchte, in dem sich auch ein größerer Gemeinderaum befinden wird. Längst steht der Rohbau, und die 1800 Arbeitsstunden, die bisher geleistet wurden, betrachten Bürgermeister Georg Hiegl und der Dorfvereinsvorstand Wolfgang Fischer als guten Boden für eine Neublüte des Gemeinsinns.

Ein Bier, zwei Preise

Wer in München lebt, neigt dazu, sich mit den Bierpreisen abzufinden, oft sogar mit den aberwitzigen Weinpreisen, die in Fresskolumnen gern als angemessen hingestellt werden, in Wahrheit aber der schiere Wucher sind und auch insofern eine riesige Dummheit, als der Wirt sich damit auf Dauer das eigene Weingeschäft versaut. Was den Bierpreis angeht, so vermuten Unkundige aus einem alten Misstrauen heraus, da schöpfe der Wirt gewaltig ab. Das hieße indessen, die Rechnung ohne die Brauerei machen. Kein Wirt im Lande, der einem nicht vorbetete, dass er besser wegkäme, wenn er sich sein Bier im Getränkemarkt besorgen dürfte.

Ein Blick in aktuelle Preislisten bestätigt das: Die Gastronomie zahlt, überschlägig berechnet, für den Hektoliter Bier um 50 bis 70 Prozent mehr als der Handel. Was das alles mit der Oberpfalz zu tun hat? Nun, beim Lindnerbräu in Kötzting, einer Stätte der ausbündigsten Biergastlichkeit, ist man für die Halbe Helles eins fünfundvierzig schuldig.

Auf den Hügeln über Kötzting, im Weiler Liebenstein, stand vor Zeiten "Der Wirtssepp", ein Gasthof, an dem sensiblere Leute sicher unverrichteter Dinge vorübergezogen wären. Heute sind es nicht zuletzt die sensibleren Leute, die zum "Wirtssepp" drängen, mit dem Unterschied freilich, dass aus dem Bauernwirtshaus von einst das "Wellness-Hotel Bayerwaldhof" geworden ist, ein Zauberberg mit allen Finessen des Genres: Gourmet-Menues, Steinölmassagen, Osmanische Bäder und das "Venus-Muschelbad Belle Epoche".

Ausgebuchte Wellness

Trotz stattlicher Preise ist der Laden, ein Rausch in Holz, ausgebucht bis zum letzten Bett, und man geht nicht fehl, wenn man das der Familiarität des Hauses zugute hält. Josef Mühlbauer, den die Einheimischen bis heute "Wirtssepp" nennen, hat mit Frau und Kindern das alles errichtet, Zug um Zug und Anbau um Anbau - demnächst werden es 2900 Quadratmeter Wellnessfläche sein. Mühlbauers Art geht aufs Praktische ebenso wie aufs Philosophische. So legt er größten Wert auf die Bodenhaftung mittels der einheimischen Schafkopfer.

Andererseits liebt er knorrige Denkfiguren wie diese: "Es gibt gscheide Viecher und dumme, und so is's auch bei den Menschen." Beim Abschied nimmt man sich vor, dass man, sollte man je in Stutenmilchextrakt baden wollen, dies bei den Mühlbauers erledigen wird.

Das Städtchen Rötz, 3600 Einwohner, 60 Vereine, größter Arbeitgeber kürzlich zusammengebrochen, war früher ein bedeutender Viehmarkt, zu dem die Händler bis aus dem Böhmischen kamen. Hier trafen sich die Handelsstraßen von Nürnberg und Augsburg nach Prag, zweimal war der Kaiser da, 1527 wurde der erste oberpfälzische Postkurs natürlich durch Rötz geführt. "Wenn Viehmarkt war", erzählt der frühere Posthalter Josef Balk, "mussten wir Kinder den Juden die Schuhe putzen." Er sinniert: "Ob die sauere Lunge gegessen haben? Eher nicht." Der "Gasthof Post" warf in seinen besten Zeiten viel Geld ab, Goldgeld damals noch, und dieses Goldgeld trug die krebskranke Tante an der Stelle, wo man ihr eine Brust abgenommen hatte.

Vorrübergehend geschlossen

Über dem Eingang, wo früher die Postkutschen durchfuhren, hängt jetzt das Schild "Vorübergehend geschlossen". Josef Balk ist 81 Jahre, seine Frau Resi 80, und als sie das Geschäft vor 15 Jahren aufgaben, machte die "Post" eine nicht untypische Karriere. Zuerst kam ein einheimischer Pächter, dann einer aus dem Saarland, der zu den Rötzern nicht den richtigen Kontakt fand, dann ein Italiener mit dem für Rötz fatalen Fehler, dass er bis Mittag schlief, und danach ein Grieche, genauer gesagt zwei griechische Brüder, die auch keine Morgenmenschen waren. Aus ihrer Zeit hängen noch Bilder in den sonst mit Reminiszenzen an die goldene Postzeit ausstaffierten Gasträumen - Fischer in mediterranem Ambiente, die ihre Netze einholen, und so Sachen.

Nicht dass es in Rötz nun kein Wirtshaus mehr gäbe, bewahre. Für die Balks jedoch, die noch zwei kranke Kinder zu versorgen haben, ist der Zustand zutiefst unbefriedigend. Was hatten die Nothaaßens, bei denen Josef Balk anno 51 einheiratete, nicht für eine glanzvolle Vergangenheit! Balk selbst war gelernter Koch, kocht übrigens auch heute noch für die Familie, und was die Rötzer angeht, so hat er für sie ein sehr kochtypisches Lob: "Mei, sie warn guade Esser."

Dreißig Jahre ist er vor lauter Arbeit in keine Kirche gekommen, einmal sind sie abgebrannt, und nun steht das Haus leer. "Am liabstn geh i füri", sagt Balk abschließend, "und sitz mi in mei Gaststubn nei."

Suche nach alten Tischen

Geht eigentlich, wie man so sagt, das Leben weiter? Es geht weiter, in unserem Fall so, dass einerseits Josef Balk in der Wirtsstube Tische stehen hat, die noch von der Altmünchner Brauereidynastie Sedlmayr herkommen, und dass andererseits in Neuhaus, einem Ortsteil von Windischeschenbach, der Kaminkehrermeister Reinhard Fütterer stets auf der Suche nach alten Tischen ist.

Das rührt daher, dass er sich in seiner freien Zeit dem Zoigl widmet, einem zeitlich befristeten Bierausschank, der ein wenig so wie der Heurige in Österreich funktioniert: Der Zoiglwirt hängt sein Zeichen hinaus, ein Gebilde in Form des Davidssterns, dann wissen die Leute, dass der Zoigl, ein untergäriges Bier, reif ist und zusammen mit allerlei kräftigen Brotzeiten zum Verzehr bereitsteht.

Fütterer hat für den Zoiglbetrieb den uralten, heruntergekommenen Schafferhof erworben, einen Wirtschaftshof der weiland Grafen von Leuchtenberg, und mit viel Sinn fürs Authentische restauriert; man kann darin nun sogar Theater spielen. Einer wie er lässt sich und anderen alles Mögliche durchgehen, nur eines nicht: das ewige Jammern.

"Hier ist die Mitte Europas", ruft er aus, "hier muss man anschieben", und er hat auch recht klare Vorstellungen, an welchem Punkt die Wirte anschieben müssten: dass sie freundlich sind und sich Zeit für die Gäste nehmen, oder dass sie nur wenig und Regionales anbieten, statt die Leistungsfähigkeit ihrer Küche mit 50 und mehr Gerichten auf einer noch dazu grausig bayerntümelnden Speisenkarte ad absurdum zu führen. Ein weiteres Anschieben hängt mit der Osterweiterung der EU zusammen: Am 2. Mai gibt es ein grenzüberschreitendes Bierfassrollen.

Wir sind am Ende unserer Reise und wissen noch weniger als am Anfang, ob es bergab geht mit der Gastronomie oder bergauf. Wahrscheinlich beides, gemäß einem alten Spruch, den auch einer von Josef Fendls imaginären Bauern sagen könnte: Das Leben ist wie eine Lawine - mal rauf, mal runter. Ganz am Schluss kehren wir noch einmal beim Pollinger in Eckertshof ein, wo sich eine Runde von Wirten aus dem Umkreis zusammengefunden hat und aus übervollem Herzen schimpft, insbesondere auf die Bürokratie, die ihnen keine Chance lasse. Wenn man sie um ein Beispiel für groben Behördenunfug bittet und hört, dass ein Wirt Behinderten-WCs in seinem Keller hätte installieren sollen, dorthin aber wegen eines Rests der alten Stadtmauer keinen Aufzug bauen durfte, ist man geneigt, ihnen zu glauben. Bei der Heimfahrt ist es stockfinster, in jeder Hinsicht.

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