"bacha posh" in Afghanistan:"Jeden Tag frage ich mich, ob es richtig ist"

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Die Kabuler Abgeordnete Azita glaubt nicht an Magie. Sie hofft, dass Mahnoush durch ihre Kindheit als Junge zu einer selbstbewussteren Frau wird. Und sie denkt an ihre Karriere. Immer wieder sei sie gefragt worden, wie sie sich als Politikerin durchsetzen wolle, wenn sie ihrem Mann nicht einmal einen Sohn schenken könne. Mehran hat dieses Problem gelöst. Natürlich kennen manche Wähler die Wahrheit, sagt Azita. Aber auch die hätten gratuliert. Ein falscher Sohn sei in Afghanistan eben immer noch besser als keiner. Wie es ihrer Tochter damit geht? Das beschäftigt auch die Mutter: "Jeden Tag frage ich mich, ob es richtig ist."

Wie viele bacha posh gibt es in Afghanistan? Darauf hat auch Nordberg keine Antwort. Sie seien eine Minderheit, aber sie seien nicht ungewöhnlich, sagt sie. In Nachbarländern wie Indien, wo es Ultraschall gibt, würden Mädchen abgetrieben. In Afghanistan, wo man sich das nicht leisten kann, müssten andere Tricks herhalten. Bacha posh sei deshalb eine akzeptierte Praxis - vorausgesetzt das Kind wird vor der Pubertät "zurückverwandelt". Eine Jugendliche muss sich von Jungs fernhalten, um unbescholten in die Ehe zu gehen.

Doch welche Auswirkungen hat so eine Verwandlung auf die kindliche Psyche? Nordberg fragt sich das immer wieder. Das Angenehme an ihrem Buch ist: Sie urteilt nicht, verurteilt nicht. Sie lässt ihre Protagonisten für sich sprechen. Und sie findet ganz unterschiedliche Antworten: Obwohl sich keines der Mädchen ausgesucht hat, ein Junge zu sein, sagen die meisten, dass sie diesen Status genießen. Die Probleme beginnen oft erst, wenn sie sich wieder zurück verwandeln sollen. Die 15-jährige Zahra zum Beispiel steckt in einer Identitätskrise. Sie weigert sich, wieder Frau zu sein. Ein Bürger zweiter Klasse, wie sie sagt.

"Du bist bereits ein Mann"

"Afghanistan ist noch immer eines der Länder der Welt, die Frauen am meisten unterdrücken", sagt Nordberg. Verändert habe sich durch den Krieg der USA und Sturz der Taliban für die Mehrheit der Frauen nur wenig. Das wird auch klar, wenn Nordberg erwachsene Frauen trifft, die immer noch als Männer leben. Nader etwa, die Fahrerin ist, und - wenn sie sich nicht verkleidet - am Steuer bedroht wird. Inzwischen hat sie Asyl in Europa bekommen. Oder Shahed, die bei der Polizei arbeitet. Nordberg fragt sie, ob sie aus ihr, der schwedischen Autorin, auch einen Mann machen könne. Doch Shahed lacht nur: "Du bist bereits ein Mann."

Ein Mann sein, das heißt für viele bacha posh: frei sein. Durch den Krieg habe sich nur wenig für eine kleine Elite gebildeter Frauen in den großen Städten geändert, sagt Nordberg. Die bacha posh sind für sie deshalb Zugeständnis und Widerstand zugleich. Sie sind tragische Figuren und doch lassen sie hoffen, dass sich Frauen irgendwann nicht mehr als Männer verkleiden müssen, um einen Drachen steigen zu lassen.

Die Schlussbemerkung der Autorin allerdings gibt wenig Hoffnung, dass es bald soweit ist: Azita hat inzwischen ihren Job im Parlament verloren. Ihr Mann schlägt sie erneut, ihre Nebenfrau akzeptiert Mehran nicht, hat aus ihr wieder Mahnoush gemacht. Ein Mädchen ohne Drachen.

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