Babynahrung in China:Das Geschäft mit dem weißen Pulver

Milchpulver, China, Drogerie

Seit 300.000 Kinder wegen gepanschter Milch erkrankten, sind chinesische Mütter misstrauisch.

(Foto: Peter Parks/AFP)

Milchpulver aus chinesischer Produktion? Keinesfalls. Aus Angst vor gepanschter Säuglingsnahrung lassen sich viele Chinesen das Pulver aus Deutschland schicken - wo deshalb seit Monaten die Regale leer stehen.

Von Christoph Giesen und Benedikt Warmbrunn

Vor wenigen Tagen hat Frau Voss eine Geschichte gehört, und seitdem, sagt sie, "glaube ich wieder an Wunder". Sie saß in der U-Bahn, gegenüber von zwei Müttern, sie unterhielten sich über ihre Babys. Die eine berichtete von einem Einkauf im Drogeriemarkt, Windeln, Brei, das Übliche. Außerdem hatte die Frau noch etwas gekauft. Etwas, von dem Frau Voss gedacht hatte, dass es das zurzeit überhaupt nicht gibt. Sie atmet tief durch: "Hipp-Milchpulver."

Frau Voss arbeitet als Verkäuferin in einem Münchner Drogeriemarkt, um zu erklären, warum sie an Wunder glaubt, läuft sie von den Shampoo-Regalen in die Abteilung für Kindernahrung. Sie zeigt auf ein Regal, in dem Hipp-Milchpulver stehen sollte. Die Reihe ist leer. Seit drei Monaten.

Überall in Deutschland stehen Regale mit Babynahrung leer, weil damit Märkte in China gefüllt werden. Das 1,3-Milliarden-Volk ist dem eigenen Milchpulver gegenüber skeptisch und hat in deutschen Produkten einen Ersatz gefunden, dem es vertraut. Die deutschen Unternehmen haben daher in ihrem Kernmarkt Lieferschwierigkeiten, allen voran Hipp. Das Unternehmen aus Pfaffenhofen ist in China besonders beliebt und konnte bisher seine Produktion nicht an den neuen Markt anpassen.

Meistens liefern Studenten das Milchpulver nach China

Es gibt viele Wege, auf denen das Milchpulver von Deutschland nach China kommt. Meistens helfen chinesische Studenten, die in Deutschland leben und sich Geld hinzuverdienen: Sie gehen bei Rossmann oder dm einkaufen, wickeln die bestellten Milchpulverdosen in Blasenfolie und legen dem Paket die Originalrechnung bei. Dann geht es per Post nach China, zum Zwischenhändler. Der bietet die Milchpulverdosen meistens im Internet an. Zum Beispiel bei Taobao, dem chinesischen Ebay. Milchpulverdosen aus der ganzen Welt können besorgte chinesische Eltern hier kaufen. Sie tun das zu Hunderttausenden.

Die Angst vor verunreinigten Lebensmitteln ist groß in China. Beinahe monatlich erschüttern Skandale die Volksrepublik. Um Geld zu sparen oder die Marge zu erhöhen, panschen, spritzen und strecken viele Händler ihre Produkte, mit teils tödlichen Folgen für die Verbraucher.

Am wenigsten trauen chinesische Eltern dem einheimischen Milchpulver. 2008 kam heraus, dass mehrere chinesische Hersteller ihr Milchpulver mit Melamin gestreckt hatten - normalerweise wird Melamin zur Herstellung von Leimen und Klebstoffen eingesetzt. Die Molkereien setzten das Melamin ein, um einen höheren Proteingehalt ihrer Milch vorzugaukeln. Fast 300.000 Neugeborene erkrankten, mehr als 50.000 von ihnen mussten in Krankenhäuser behandelt werden. Sechs Kleinkinder starben an Nierenversagen.

Seitdem ist der chinesische Markt zum Erliegen gekommen. Sämtliche Appelle der Regierung, dass die chinesische Milch inzwischen unbelastet sei, verhallen. Auch offiziell importierte Milch wurde in den ersten Monaten nach der Melamin-Krise kaum gekauft, viele chinesische Eltern wollen für ihren Nachwuchs nur Milchpulver, das im Ausland hergestellt und verpackt wird, und das dort im Laden auslag. So groß war die Angst.

Als Alternative kauften chinesische Eltern Milchpulver in Hongkong. Die ehemalige britische Kolonie gehört zwar als Sonderverwaltungszone zu China, doch die Gesetze und Kontrollen sind strenger, Hersteller und Importeure halten sich daran. Binnen weniger Wochen eröffneten Hunderte Trockenmilchgeschäfte in Hongkongs Einkaufstraßen, doch die Nachfrage war noch größer. Ständig war das Milchpulver ausverkauft.

Fast 900 Festnahmen wegen Milchschmuggels

In ihrer Not verfügte die Hongkonger Verwaltung eine strenge Ausfuhrbeschränkung. Pro Person dürfen nur noch maximal zwei Dosen nach China gebracht werden. Wer sich mit mehr erwischen lässt, dem droht eine Strafe von umgerechnet bis zu 50.000 Euro oder gar zwei Jahre Gefängnis.

Seit dem Verbot Anfang März hat die Polizei in Hongkong erste Milchschmuggel-Syndikate hochgenommen. In den ersten sechs Wochen der strikten Auflagen verhaftete die Polizei fast 900 Schmuggler und konfiszierte fast neun Tonnen Trockenmilch. Zum Vergleich: Wegen Drogenschmuggels wurden im gesamten Jahr 2012 lediglich 420 Menschen in Hongkong festgenommen.

Seit Hongkong dicht ist, läuft das große Milchgeschäft woanders

Durch das Ausfuhrverbot hat sich der Markt in Hongkong inzwischen beruhigt. Die Milchpulver-Dealer, die einst ein Vermögen verdienten, gibt es weiter, aber sie harren gelangweilt in ihren Läden aus. Kaum jemand interessiert sich für ihre Ware. In einer Fußgängerzone in Kowloon bieten acht Läden Milchpulver an, alle haben ihre Dosen auf den Bürgersteig geräumt. Es gibt Milchpulver aus den Niederlanden, aus Singapur und Australien, aus Irland.

"Das kommt aus Deutschland", sagt ein Händler und hebt eine Dose der Firma Hipp hoch. "Die kostet 300 Hongkong-Dollar." Also fast 30 Euro. "Und die hier kommt aus Irland, macht 278 Dollar, aber man darf ja nur noch zwei Dosen kaufen." Er stellt die beiden Dosen zu den Hunderten anderen zurück. Seit Hongkong dicht ist, läuft das große Milchgeschäft woanders ab. In Deutschland zum Beispiel.

Dort sind die Milchpulver-Konzerne seit Ende 2012 nervös. Sie fürchten, dass die große Nachfrage in China sie das Geschäft mit den heimischen Kunden kostet. Frau Voss, die Münchner Drogerie-Verkäuferin, erinnert sich noch gut an den Frühling, als verunsicherte Eltern bei ihr Schlange standen, da sie in den Regalen nicht mehr das gewohnte Produkt entdeckten. Zunächst einmal konnte sie den Kunden nicht erklären, warum das Regal plötzlich leer war.

Es hat nicht lange gedauert, bis die Konzerne herausfanden, wohin ihr Milchpulver verschwand, denn die Käufer wandten sich direkt an die Unternehmen, um Nachschub zu bekommen. Da war etwa der Anruf der Flugbegleiterin, die ihrer Freundin in Peking ein paar Packungen mitbringen wollte. Da waren eben die Anfragen der vielen Studenten.

Und da waren auch Anrufe und E-Mails besonders eifriger Händler. Sie schrieben den Konzernen, dass sie bisher im Großmarkt Metro einkaufen waren, aber: "Metro Bestellung ist NICHT genug." Weshalb sie gerne alle zwei Wochen sechs bis acht Paletten zugeschickt bekommen wollten. Eine Palette entspricht 400 Packungen.

In Deutschland wird nun rund um die Uhr produziert

Milchpulver in China Hipp

Hipp-Pulver in Peking: Nach einem erneuten Skandal ist das Vertrauen der Chinesen in eigene Hersteller zerrüttet.

(Foto: Stephan Scheuer/dpa)

Unter den in Deutschland führenden Milchpulver-Konzernen war Nestlé am besten auf die gestiegene Nachfrage in China vorbereitet. Das Unternehmen exportiert ohnehin seit mehreren Jahren Milchpulver nach Asien. Bereits 2011 wurde zudem das Werk in Biessenhofen vergrößert, Nestlé hat die Produktionskapazität dort verdoppelt. So konnte im Frühjahr einfach mehr hergestellt werden. Engpässe habe es nicht gegeben.

Anders ist dies bei Milupa, das zum Danone-Konzern gehört. Das Unternehmen exportiert nicht nach China, die Milupa-Produkte, die dort in den Märkten stehen, wurden allesamt in deutschen Drogerien aufgekauft. Das Anliegen des Unternehmens sei es, sagt Sprecher Stefan Stohl, "dass die deutschen Mütter deswegen nicht vor leeren Regalen stehen". Aus dem Werk in Fulda wurden andere Produktionslinien nach Irland ausgelagert, so dass in Fulda fast nur noch Milchpulver produziert wird. Inzwischen ist das Werk ausgelastet.

Niemand bei Milupa zweifelt daran, dass in diesem Jahr an 365 Tagen nahezu 24 Stunden lang produziert werden muss - die Produktion steht derzeit nur, wenn gereinigt wird. Vom ersten bis zum dritten Quartal ist die Produktion um 60 Prozent erhöht worden, sagt Stohl, das entspricht mehreren tausend Tonnen Milchpulver. Inzwischen sind in den Drogerien die Reihen mit Milupa wieder gefüllt. Stohl sagt: "Die Lage hat sich entspannt."

Der Notstand konzentriert sich auf Hipp-Milchpulver

In der Münchner Drogerie, in der Frau Voss arbeitet, sind die beiden Milupa-Reihen tatsächlich voll. Der Notstand konzentriert sich derzeit auf Hipp-Milchpulver. Frau Voss zeigt erneut auf das leere Regal. Sie muss den Kunden weiter erklären, dass es ein System gebe, in das automatisch jede Milchpulver-Packung eingetragen wird, die verkauft wurde. Entsprechend groß ist die nächste Lieferung. "Jetzt bekommen wir jeden Tag einen Zettel, auf dem steht: Hipp-Milchpulver konnte nicht geliefert werden."

Auch bei Hipp produzieren sie mit einer Sieben-Tage-Woche, sie haben zum Jahresbeginn neue Fachkräfte eingestellt. Inzwischen können auch hier jährlich mehrere tausend Tonnen Milchpulver zusätzlich produziert werden. Sprecherin Sandra Hohenlohe sagt jedoch, dass in Großstädten weiterhin Regale ausgeräumt seien. Mitunter monatelang.

"Eine Ende der gestiegenen Nachfrage ist nicht absehbar", sagt Hohenlohe. Sie betont, dass es "oberste Priorität" des Konzerns sei, die Regale in Deutschland wieder zu füllen. Von Herbst an soll die Produktion noch einmal ausgeweitet werden. In manchen Drogeriemärkten werden die Kunden darauf hingewiesen, dass Hipp-Milchpulver erst von Oktober an wieder in den Regalen stehen wird.

Und bis dahin? Frau Voss zeigt auf einen Zettel, der am Regal hängt. Dort steht, dass Kunden nicht mehr als vier Packungen Milchpulver kaufen dürfen. Frau Voss sagt: "Schwierig war es mit asiatischen Müttern, die hätten am liebsten zehn Packungen genommen. Aber die kommen zu uns seit drei Monaten nur noch selten, weil die unbedingt Hipp wollen." Warum ausgerechnet Hipp so beliebt ist? Für Frau Voss ist das nur ein weiteres Rätsel in dieser sonderbaren Geschichte.

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