Süddeutsche Zeitung

Autobiografien:Voll das Leben

Lesezeit: 3 min

Von Verena Mayer und Hannes Vollmuth

"Nicht jede Geschichte in diesem Buch geht glücklich aus." (Hillary Clinton, "Entscheidungen")

Jörg Hofstätter ist 41, kein Mensch kennt ihn. Aber Hofstätter legt gerade seine Autobiografie vor. Indem er nämlich auf seinem Tablet herumtippt; dann hat er das ganze Leben vor sich, chronologisch und mit Bildern. Hofstätter musste dafür kein Manuskript abliefern und keinen Ghostwriter beschäftigen, sondern einfach ein paar Stunden mit seinem Tablet verbringen. Hofstätter hat zusammen mit anderen ein Programm erfunden, mit dem man sein Leben für die Nachwelt festhält. Eine App für die eigene Autobiografie.

Hofstätter, Jeans, Pulli, sitzt mit seinem Geschäftspartner Bernhard Schragl in einem Café in Wien. Beide sind aus Österreich, Schragl ist Historiker, Hofstätter Spieleentwickler. Er hat sich lange mit Lernspielen für alte Menschen beschäftigt, jetzt zeigt er auf dem Tablet, wie man Felder und Zeitleisten füllt, Daten eingibt oder ganze Geschichten. So lange, bis einem die App namens Keosity das gesamte Leben ausspuckt, vom ersten Fahrrad über die schönste Reise bis zur wichtigsten Entscheidung und der größten Krise.

Die Frage ist nur: wozu? Warum sollte man als Normalo sein Leben für die Nachwelt festhalten? Schragl sagt, das sei genau der Witz. Jede Geschichte sei es wert, erzählt zu werden. Lange waren Autobiografien nur etwas für Kaiser oder Feldherren. Im bürgerlichen Zeitalter wurde es die Form, um das eigene Leben zu überhöhen, heute schreibt jeder Fußballer irgendwann seine Memoiren. Für wenig interessiert sich der Mensch so sehr wie für andere Menschen, Lebensgeschichten gehören schon lange zu den bestverkauften Werken auf dem Buchmarkt. Und auch unter Nicht-Promis ist das Bedürfnis groß zurückzublicken. Auf die Firma, die Familie, Opas Erlebnisse im Krieg. "Menschen wollen nicht bloß Erfolg", sagt der Literaturwissenschaftler Reiner Stach, "man will auch eine interessante Person sein."

Wie groß dieses Bedürfnis ist, zeigt sich in Berlin-Prenzlauer Berg. In einem Altbau residiert das Unternehmen "Rohnstock Biografien". Ein bürgerliches Treppenhaus, oben Holzparkett und Rattansessel, Salonatmosphäre. Hier kommt her, wer sein Leben erzählen und danach aufgeschrieben haben möchte und dafür ein Jahr Zeit und mindestens 10 000 Euro mitbringt. Und das sind viele, der erfolgreiche Gynäkologe genauso wie die resolute Kneipenwirtin oder der Mann, der nach dem Krieg aus Polen fliehen musste und erst fünfzig Jahre später seine Heimat wiedersah. Die Germanistin und Autorin Katrin Rohnstock kam Ende der Neunzigerjahre auf die Idee, als eine Kassiererin an der Tankstelle zu ihr sagte: Sie sind doch Schriftstellerin, schreiben Sie mal das Leben meines Vaters auf, das ist interessanter als das von Lady Di. Rohnstock fand das keine schlechte Idee - und stieß in eine Marktlücke. Heute hat sie mehrere Hundert Bücher herausgebracht und beschäftigt 30 Mitarbeiter.

Arthur Schlegelmilch, Leiter des Instituts für Geschichte und Biographie an der Fernuniversität Hagen, hat eine Erklärung für den Boom: die sozialen Medien. Wenn sich die Leute ständig selbst fotografieren und ihren Alltag teilen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man auch die eigene Geschichte mit der Welt teilen will. Schon jetzt sei das Netz voll von autobiografischer Arbeit, sagt Schlegelmilch. Auf einer Plattform wie Memoro.org kann sich jeder Mensch über 60 Jahre verewigen. Ein Mann mit weißem Haar aus dem Münchner Stadtteil Giesing erklärt, wie man hier einst den Kuppelparagrafen umging, eine Frau erzählt von ihrer Trekking-Tour in Nepal. Das Non-Profit-Projekt trägt den Beinamen "Die Bank der Erinnerungen".

"Jede Autobiografie lebt von Krisen und Fehlern"

Schlegelmilch hat den schweigsamen Typus Mensch der Sechziger- und Siebzigerjahre noch gut in Erinnerung, ein Typus, der gar nicht reden wollte, geschweige denn sein Leben ins Internet stellen. "Das waren Männer, die fast noch ins Kaiserreich hineingeragt haben." Später kam dann eine Welle von Erinnerungen aus dem Krieg und der DDR, gebunden und auf Papier. Die neueste Phase: autobiografisches Schreiben, Reden und Posten aller Altersstufen und auf allen Kanälen. Immer jünger werden die Autobiografen, sie erzählen von einem Leben, das noch kaum gelebt worden ist. Natürlich digital, auf Facebook, wo es seit 2012 die "Timeline" gibt. Man kann jetzt jedes Leben dort zurückscrollen, eine Art Internetautobiografie ist dort entstanden. "Der Druck ist größer geworden, sich über das eigene Leben zu äußern", sagt Schlegelmilch, und das führt einen nun wieder zurück nach Wien.

Dort sagt Historiker Bernhard Schragl, dass es ihnen nicht nur um "die Happy-Welt auf Facebook" gehe. Jede Autobiografie lebe von Krisen und Fehlern und davon, sich diese einzugestehen. Am längsten hätten sie an den Fragen in der Autobiografie-App gebastelt, daran, wie man die Leute dazu bekommt, sich zu öffnen und intimste Dinge zu erzählen. Man muss jetzt hundert Fragen beantworten, die konkret und auch banal sind. Wie wurde das erste Geld verdient, welches Poster hing im Kinderzimmer? Was war das erste Haustier, das liebste Essen? Als Hofstätters Mutter, die arm auf einem Bauernhof aufgewachsen war, die Fragen beantwortete, kam heraus, dass sowohl ihr liebstes Haustier als auch ihr liebstes Essen das Zicklein auf dem Hof war. Alltägliche Details, die in der Summe eine historische Wahrheit ergeben.

Die App solle die Autobiografie "demokratisieren", sagt Schragl. Alle hätten das Recht, Erinnerungen zu bewahren, und alle Erinnerungen seien wichtig. Wenn sich solche Anwendungen durchsetzen, könnte sich das darauf auswirken, wie Geschichte erzählt wird. Als Sammlung von unzähligen User-Erinnerungen etwa, "in der man zum Beispiel nachgucken kann, was 1993 im Leben der Menschen das Wichtigste war". Geschichte würde nicht mehr nur von den Siegern geschrieben, sagt Schragl. Sondern auch vom Schwarm.

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Quelle:
SZ vom 04.04.2017
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