Temporausch:Mit 417 km/h über die Autobahn

Temporausch: Wie so oft ist ein Youtube-Video der Beleg für das Unfassbare: Ein Bugatti Chiron rast mit 400 km/h über die Autobahn zwischen Berlin und Hannover.

Wie so oft ist ein Youtube-Video der Beleg für das Unfassbare: Ein Bugatti Chiron rast mit 400 km/h über die Autobahn zwischen Berlin und Hannover.

(Foto: Youtube)

Ein Geschäftsmann brettert mit einer irren Geschwindigkeit über die A2 und stellt das Video ins Internet. Kann man einen so schnellen Wagen überhaupt kontrollieren?

Von Moritz Geier

Nach 30 Sekunden streift am rechten Bildrand das erste überholte Auto vorbei, das im Video eingeblendete Tachometer zeigt 177 Kilometer pro Stunde an. Blick aus dem Cockpit auf die dreispurige Autobahn, rotblauer Himmel, Morgendämmerung. Nach etwas mehr als einer Minute krümmt sich die Fahrbahn ein letztes Mal, wird zur Geraden, verengt sich zum Fluchtpunkt am Horizont hin. Der Fahrer drückt aufs Gaspedal. In gut 20 Sekunden beschleunigt sein Wagen jetzt von 200 auf 300 km/h, zischt auf der bislang ziemlich leeren Fahrbahn an einem Auto vorbei. Als hätte es dort nur gestanden. 350, 360, 370. Der Fahrer hält den Wagen irgendwo zwischen linker und mittlerer Spur, die Nadel klettert weiter, 398, 399, 400, Verkehrsschilder und überholte Autos fliegen jetzt vorbei wie im Computerspiel, da geht noch mehr, 410, noch ein bisschen mehr, 414, 415, 416, ganz kurz zuckt die Nadel auf 417.

Vierhundertsiebzehn Kilometer pro Stunde. Schnell wie ein chinesischer Transrapid.

Das Video hat der tschechische Geschäftsmann Radim Passer schon vor ein paar Tagen auf Youtube gepostet, "Bugatti Chiron on Autobahn" hat er es genannt, im Juli 2021 sei das gewesen, auf der A2 zwischen Berlin und Hannover, mit der GoPro-Kamera gefilmt, ein dreiminütiger Temporausch. Passer und sein Beifahrer sind am Ende im Video zu sehen, kurz nach dem Top-Speed, sie klatschen, johlen, ballen die Fäuste.

Was bedeutet Kontrolle?

Mehr als fünf Millionen Menschen haben das Video angeklickt, und sogar das Bundesverkehrsministerium von Volker Wissing (FDP) sah sich nun bemüßigt, ein Statement dazu abzugeben, die Nachrichtenagentur AP hatte nachgefragt, der Spiegel darüber berichtet. Obwohl Radim Passer nicht illegal unterwegs war - auf dem betroffenen Abschnitt der A2 gilt offenbar keine Geschwindigkeitsbegrenzung - kritisiert die Behörde die Hochgeschwindigkeitsfahrt des tschechischen Millionärs: Man lehne jedes Verhalten im Straßenverkehr ab, das zu einer Gefährdung von Verkehrsteilnehmern führen könnte. Das Gesetz schreibe Fahrern vor, nur so schnell zu fahren, dass das Fahrzeug ständig unter Kontrolle ist.

Aber was bedeutet Kontrolle überhaupt noch bei 400 Kilometern pro Stunde?

Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV), hat von Passers Höllenritt gelesen, das Video will er sich aber lieber nicht anschauen. "Da wird mir wahrscheinlich schlecht", sagt er. Sportwagen wie der Bugatti im Video hätten zwar "exzellente Fahrwerke und Bremsen, eine superdirekte Lenkung und Sitze, auf denen man nicht herumwackelt", aber auf öffentlichen Strecken, wo es andere Verkehrsteilnehmer gebe, seien derartige Geschwindigkeiten trotzdem nicht zu beherrschen - egal, wie fähig der Fahrer sei. "Das Schlimmste ist, dass Leute glauben, sie könnten es."

Anhalteweg von 620 Metern

Viele Menschen, sagt Brockmann, seien sich nicht im Klaren darüber, wie lange ihr Anhalteweg sei. "Sie vergessen die Reaktionszeit, die mindestens eine Sekunde beträgt", eine Sekunde also, in der man noch ungebremst dahinschießt. Bei einer Sekunde Reaktionszeit käme man bei 400 Kilometern pro Stunde laut Faustformel auf einen Reaktionsweg von 120 Metern. Fachzeitschriften, die den Chiron getestet haben, rechnen mit einem Bremsweg um die 500 Meter. Zusammen also mehr als 600 Meter. Zu viel, um auf unvorhergesehene Ereignisse noch zu reagieren. Ein Reh, ein Gegenstand auf der Fahrbahn, ein Auto, das die Spur plötzlich wechselt.

Auch gefährlich: die extreme Beschleunigung dieser Boliden. "Niemand muss und kann auf der Autobahn mit einer derartigen Geschwindigkeit rechnen, dazu sind wir psychologisch gar nicht in der Lage", sagt Brockmann. "Der ist plötzlich aus dem Nichts da auf der linken Spur." Im Rückspiegel, also auf einem zweidimensionalen Bild, sei es unmöglich, diese Geschwindigkeit richtig einzuschätzen.

Die Grenzen des Tempolimits

Würde ein Tempolimit da nicht helfen? Das Tempolimit sei ein "ganz kleines Thema", hat Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) am Montag bei einer Veranstaltung des Handelsblatts in Berlin gesagt. Ein emotionales Thema, ja, aber eines, das die "Probleme im Mobilitätssektor" nicht lösen könne. Die Fahrt des Radim Passer aber wirft natürlich mal wieder Sicherheitsfragen auf.

Unfallforscher Brockmann sieht im Tempolimit keine Lösung. Erstens glaubt er nicht, "dass sich diese Leute davon beeindrucken ließen". Und zweitens habe man de facto, sagt er, mit der Richtgeschwindigkeit von 130 gewissermaßen ein Limit. Denn im Fall eines Unfalls spiele die Richtgeschwindigkeit vor Gericht eine große Rolle, das zeigten entsprechende Urteile. Problem an der Sache: Das hält Raser natürlich nicht davon ab, sich auf deutschen Autobahnen ihrem Adrenalinrausch hinzugeben.

Radim Passer, der nicht zum ersten Mal mit einem Hochgeschwindigkeitstest auf deutschen Straßen auffällt, wird schon gewusst haben, warum er den kleinen Text unter seinem Video mit einem besonderen Dank beendete. "Wir danken Gott", schreibt er, "für die Sicherheit und die guten Umstände."

In einer früheren Fassung hieß es, der Bremsweg betrage bei 400 km/h mit einer Bremsverzögerung von sieben Metern pro Quadratsekunde 880 Meter. Fachzeitschriften haben den Bugatti Chiron getestet und rechnen mit einem Bremsweg um die 500 Meter. Das wurde im Text ergänzt.

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