Caleb, Patrick, Sarah und Laura sterben alle, da sind sie noch Babys. Caleb wird 1989 nur 19 Tage alt, Laura stirbt 1999 im Alter von 18 Monaten. Den vier Geschwistern mangelt es nicht an Nahrung, sie werden auch nicht vernachlässigt oder körperlich misshandelt, lange fehlt eine medizinische Erklärung für ihren Tod. Aber mit jedem toten Baby wächst das Misstrauen gegenüber der Mutter, 2003 wird die Australierin Kathleen Folbigg schließlich verurteilt. Und erst jetzt, 20 Jahre später, Folbigg ist inzwischen 55 Jahre alt, scheint sich die Mutter vom Vorwurf, ihre Kinder getötet zu haben, rehabilitieren zu können.
Vor Gericht beteuert die Mutter damals ihre Unschuld. Die Experten sind sich in dem Indizienverfahren nicht einig, womöglich wurden die Kinder erstickt, heißt es. Der Staatsanwalt hält es jedenfalls für unwahrscheinlich, dass gleich vier Kinder einer Familie eines natürlichen Todes sterben. Am Ende werden Folbigg ihre eigenen Tagebucheinträge zum Verhängnis, die vor Gericht als Schuldeingeständnis gewertet werden. Es sind die Notizen einer verzweifelten Mutter, die sich selbst die Schuld gibt für den Tod ihrer Kinder.
Das Bild von Folbigg als fürsorgliche Mutter wird auch durch ihren sozialen Hintergrund getrübt. Ihr Vater ermordet ihre Mutter, da ist sie erst zwei Jahre alt. Sie wächst in Pflegefamilien und Kinderheimen auf. Mit 18 Jahren trifft sie Craig Folbigg, zwei Jahre später heiraten die beiden, vier Jahre später kommt Caleb zur Welt. Er lebt nur wenige Tage. Keines der Kinder, die Kathleen Folbigg bekommt, wird älter als 18 Monate. Am Ende spricht die Jury sie des Mordes an Patrick, Sarah und Laura und des Totschlags an Caleb schuldig. Die Strafe lautet damals: 30 Jahre Gefängnis. Das mediale Urteil: die schlimmste Serienmörderin Australiens. Ihr Mann lässt sich noch vor dem Prozess scheiden, er glaubt offenbar bis heute, sie sei schuld am Tod der Kinder.
Folbigg hat ihren Töchtern einen seltenen Gendefekt vererbt
Michael Daley, Generalstaatsanwalt des australischen Bundesstaates New South Wales, sieht das anders. Es gebe berechtigte Zweifel an der Schuld der Mutter, sagt er am Montag. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse hätten ergeben, dass die zwei Jungen und zwei Mädchen möglicherweise eines natürlichen Todes gestorben seien, so wie es die Mutter immer gesagt habe.
2022 wird eine neue Untersuchung eingeleitet, nachdem man feststellt, dass Folbigg ihren beiden Töchtern einen seltenen Gendefekt vererbt hat. Dieser kann zu Herzrhythmusstörungen und zum plötzlichen Tod führen. Fast 100 Wissenschaftler und Ärzte setzen sich dafür ein, den Fall neu aufzurollen, und führen mögliche medizinische Gründe für jeden der vier Todesfälle auf.
Das Schicksal von Kathleen Folbigg ist auch ein Beispiel für die Hilflosigkeit im Umgang mit dem plötzlichen Kindstod, auch bekannt als Sudden Infant Death Syndrome. Dieser gilt als Hauptursache für Kindersterblichkeit in westlichen Ländern, tritt meist im ersten Lebensjahr und dann vor allem im Schlaf auf. Die Frage nach der Ursache gibt Medizinern noch immer Rätsel auf und führt zu teilweise kruden Annahmen. So legt der 1933 geborene britische Kinderarzt Roy Meadow in seinem 1989 erschienenen Buch "ABC of Child Abuse" dar, dass in einer einzigen Familie "ein plötzlicher Kindstod eine Tragödie, zwei verdächtig und drei ein Mord sind, bis der Beweis erbracht wird". Mittlerweile weiß man aber, dass das Risiko für Geschwisterkinder steigt, sobald ein Baby am plötzlichen Kindstod gestorben ist. Das Misstrauen gegenüber Eltern, insbesondere Müttern, etwas falsch gemacht zu haben, ist geblieben. Auch deshalb, weil Jugendämter und Gerichte bei mehreren toten Babys in einer Familie unter enormem Druck stehen.
Kathleen Folbigg darf am Montagmorgen nach 20 Jahren das Clarence Correctional Center in Grafton bei Brisbane verlassen. "Wir müssen ihr jetzt den Freiraum geben, den sie braucht, um ihr Leben weiterzuführen; sie nicht belästigen oder in irgendeiner Weise verfolgen", wird Generalstaatsanwalt Daley im Sydney Morning Herald zitiert. "Es war eine 20-jährige Tortur für sie." Ob diese Tortur für Kathleen Folbigg nun ein Ende hat, liegt auch in der Hand der Politik. Eine mögliche Entschädigung, vermutlich in Millionenhöhe, bekäme sie erst nach einer Zivilklage - oder durch eine freiwillige Zahlung der Regierung.