Außergewöhnliche Brieffreundschaft:Die Briefe eines Todeskandidaten

Willie, in Texas zum Tode verurteilt, und seine deutsche Brieffreundin Katrin: "Ohne Dich würde ich es hier drinnen nicht aushalten", schreibt er an sie. "Er ist mein bester Freund", sagt sie über ihn.

Charlotte Frank

Der 2.März 2005 war der Tag, an dem Willie sterben sollte. Aber als er sich sein restliches Leben schon in Stunden ausrechnen konnte, empfand er keine Angst. Sondern Wut. "Weil ich spürte, dass es noch gar nicht meine Zeit war, um zu gehen."

Gefängnis

Alles, was Willie noch von draußen sehen kann, ist ein kleines Stück Himmel - wenn er sich auf die Zehenspitzen stellt.

(Foto: Foto: dpa)

Er sollte Recht behalten: In letzter Minute erreichte sein Anwalt eine Verlängerung der Frist, in der sich Willies Leben abspielt. Er überlebte auf Raten. Denn Willie Earl Pondexter junior, 32 Jahre alt, wurde vor 13 Jahren vom US-Staat Texas zum Tode verurteilt.

Im Gefängnis Polunski Unit in Livingston wartet er seitdem auf seine Hinrichtung durch die Giftspritze.

Im Gegensatz zu Willie hatte Katrin Flückiger große Angst vor dem 2. März 2005. "Das war wie ein Weltzusammenbruch", erinnert sie sich an den Moment, in dem sie von Willies Hinrichtungstermin erfuhr. Den Todeskandidaten und die Studentin aus Köln verbindet eine besondere Beziehung: Jede Woche schicken sie sich Briefe. "Ohne Dich würde ich es hier drinnen nicht aushalten", schreibt Willie an Katrin.

"Er ist mein bester Freund", sagt Katrin über Willie. Und das trotz dessen Vorgeschichte: Dem Afroamerikaner wird vorgeworfen, als 19-Jähriger bei einem Einbruch mit zwei Komplizen eine Frau ermordet zu haben. Zwei Schüsse fielen damals, Willie soll den zweiten abgegeben haben.

Drei Exekutionen im Mai

Seitdem sitzt er in der Todeszelle in Polunski Unit. "Death Row" nennen die Insassen das texanische Hochsicherheitsgefängnis, und das nicht nur wegen der vielen Exekutionen ihrer Mitgefangenen - alleine im Mai wurden bisher drei Hinrichtungen vollzogen, die letzte vergangenen Mittwoch. "Auch das Leben hier gleicht dem Begrabensein", schreibt Willie. Denn Menschlichkeit oder soziale Kontakte gibt es kaum in dem Gefängnis, dessen Haftbedingungen Amnesty International vor fünf Jahren öffentlich anprangerte. Bisher erfolglos.

Die mehr als 450 Todeskandidaten leben in Isolationszellen von jeweils nicht einmal sechs Quadratmetern. Tageslicht dringt nur durch einen handbreiten Schlitz unter der Decke zu ihnen; alles, was die Gefangenen noch von draußen sehen, ist ein kleines Stück Himmel - wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellen. Sonst haben sie gar nichts zu tun: Sie dürfen nicht arbeiten und keinen Sport treiben, nicht fernsehen und nicht mehr besitzen, als in eine kleine Kiste passt.

Größte menschliche Nähe ist die Hand, die das Essen durchschiebt

Zur quälenden Langeweile gesellt sich die Einsamkeit: Mit Mitgefangenen können sich die Insassen nur durch Klopfzeichen verständigen oder indem sie sich an die Sehschlitze an der Zellentür pressen und sich anbrüllen. Die größte menschliche Nähe ist für viele die Hand, die dreimal täglich Essen durch eine Klappe in der Tür schiebt.

Soweit man unter seinen Umständen also überhaupt von Glück sprechen kann, hatte Willie welches. Vor drei Jahren erreichte ihn ein Brief von Katrin, in dem sich die junge Frau vorstellte. 22 Jahre war sie damals alt und studierte in Köln Lateinamerika-Wissenschaften. "Ich hatte durch eine Freundin von so einer Brieffreundschaft gehört und wollte Willie damit helfen", sagt sie.

Bald kam ein Brief zurück: "Gerade als ich dachte, es gäbe kein Lächeln mehr in meinem Leben, hast Du wieder eins hineingebracht", antwortete Willie. Seitdem schreiben sich die beiden regelmäßig. Sie teilen sich Gedanken und Alltagsereignisse mit, sie erfinden Kettengeschichten, die der andere weiterspinnen muss, und sie lesen die gleichen Bücher, die sie miteinander besprechen.

Die Briefe eines Todeskandidaten

"Briefe sind für viele Gefangene der einzig verbliebene Kontakt zur Außenwelt", sagt Christel Kollmann. Seit 24 Jahren vermittelt sie für Amnesty International Briefkontakte zwischen Deutschen und Insassen von Death Row. In dieser Zeit hat sich die Zahl der Todeskandidaten in Texas verdreifacht. Allein 2005 wurden hier 19 Menschen hingerichtet, so viele wie in keinem anderen amerikanischen Bundesstaat. Landesweit wurden im vergangenen Jahr 60 Exekutionen vollstreckt. Damit rangieren die USA direkt hinter China, Iran und Saudi-Arabien. Das schlägt sich auch in Kollmanns Kartei nieder: "Bei manchen Buchstaben ist der Stapel der Hingerichteten schon dicker als der der noch lebenden Insassen", sagt sie. Dennoch stellt sie immer wieder Kontakte her, "denn was für uns ein kurzer Brief ist, ist für viele Gefangene die einzige Menschlichkeit, die sie noch kennen."

"Mein Geist ist frei"

Wie in Willies Fall. "Danke, dass Du mir hilfst, diese Zelle zu verlassen. Mein Körper ist eingeschlossen, aber mein Geist ist trotzdem frei", schrieb er einmal an Katrin. Die hat ihn mittlerweile sogar schon zwei Mal im Gefängnis besucht: zuerst 2004, bei einer Reise durch Amerika, dann noch mal vor zwei Monaten während eines Praktikums in New York.

Bei aller Vertrautheit vergisst Katrin aber nicht, warum Willie im Gefängnis sitzt. "Einen Mord kann man nie wieder gutmachen", sagt sie leise. Dann, energischer: "Aber egal, was Willie getan hat: Für mich bleibt er ein Mensch, und kein Mensch verdient den Tod." Der Mensch Willie, das ist für sie derjenige, der so gut zuhören kann, Gedichte schreibt, Jazz mag und am liebsten "Peach Cobbler" isst, ein Pfirsich-Dessert. Der Verbrecher Willie dagegen, das ist die Nummer 999-111 auf Death Row, ein verdächtigter Mörder. Ihn versucht Katrin aus der Freundschaft auszublenden.

Es ist ein Balanceakt, den sie meistern muss: ein Wandeln auf dem Grat zwischen Bestrafen und Vergeben, Opfergerechtigkeit und Tätergerechtigkeit - immer entlang der Frage, wie weit Strafe gehen muss und wie weit Verzeihen reichen darf. Könnte Katrin auch in jemandem den Verbrecher ausblenden, wenn sie wüsste, dass er Menschen gefoltert, vergewaltigt, gequält hat? Sie ist ehrlich: "Wahrscheinlich nicht." Aber sie erinnert auch daran, dass viele in Death Row die Tat bestreiten, die man ihnen vorwirft. Seit 1973 stellte sich bei 122 zum Tode verurteilten Amerikanern im Nachhinein ihre Unschuld heraus.

Auch Willie beteuert, zu Unrecht in der Todeszelle zu sitzen. Er sei zwar am Tatort gewesen, habe aber nicht geschossen. Wenn er dann betont, dass er vor dem Tod keine Angst habe, klingt er fast trotzig. "Er ist das einzige Versprechen, das uns das Leben jemals macht", schrieb er kurz vor dem 2.März 2005 an Katrin. Aber jetzt schon? Seine schnörkelige Schrift wird noch schräger, als er schreibt: "Nein, jetzt noch nicht. Es ist noch zu früh zum Sterben!"

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