Süddeutsche Zeitung

Proteste in Baltimore:Wo das Elend wohnt

Nach den Unruhen in Baltimore darf es keine Rückkehr zur Normalität geben, fordert ein deutscher Arzt, der in dem Krankenhaus arbeitet, in dem Freddie Gray gestorben ist. Denn normal seien da nur Morde, Heroin, Armut und Gangs.

Von Thorsten R. Fleiter

Es ist bedauerlicherweise nicht das erste Mal, dass eine amerikanische Stadt durch Polizeigewalt in die Schlagzeilen geraten ist. Die dadurch verursachten Todesfälle sind keine Banalität und müssen konsequent aufgeklärt und die Beteiligten zur Verantwortung gezogen werden. Der Aufmarsch der Fernsehteams ist derzeit in Baltimore fast genauso imposant wie die Demonstration der Staatsmacht auf den Straßen der Stadt.

Über jede Bewegung wird live berichtet. So viel Aufmerksamkeit hat die Stadt schon lange nicht mehr erfahren. Allerdings wird gerade in den von den Protesten betroffenen Gebieten in West-Baltimore die Forderung immer lauter, zur Normalität zurückzukehren. Dabei muss vor dem Hintergrund des gewaltsamen Todes von Freddie Gray durchaus die Frage erlaubt sein, was eigentlich "normal" in dieser Stadt ist.

Ich möchte von vorneherein auf meine Voreingenommenheit hinweisen: Ich arbeite im Shock-Trauma-Center der University of Maryland, in genau jenem Krankenhaus, das für die Behandlung der meisten schwerverletzten Erwachsenen in Maryland und den umgebenden Staaten zuständig ist und in dem auch Freddie Gray behandelt wurde und gestorben ist. Die durch Gewalt verursachten Verletzungen haben hier so große Ähnlichkeit mit denen in Kriegsgebieten, dass das US-Militär seine Ärzte und Sanitäter während der Ausbildung gerne in dieses Zentrum schickt.

Um die "Normalität" in dieser Stadt zu verstehen, ist es notwendig, einen Blick in die Statistik zu werfen: Baltimore hat eine mehrheitlich schwarze Bevölkerung (63,3 Prozent 2013), eine schwarze Bürgermeisterin und einen schwarzen Police Commissioner (allerdings sind immerhin 46 Prozent der Polizisten weiß). Eigentlich sollte die Stadt unter diesen Voraussetzungen ein Erfolgsmodel für die schwarze amerikanische Minderheit sein. Aber davon ist sie weit entfernt. So wurden hier 235 Morde im Jahr 2013 registriert. Zum Vergleich: In ganz Deutschland waren es im selben Jahr 282. In Baltimore leben etwa 622 000 Einwohner - das ist vergleichbar mit Stuttgart oder Dortmund.

Unterhalb der Armutsgrenze

Überfälle mit Körperverletzungen, Raub, Einbrüche und Vergewaltigungen gibt es hier häufiger als in den meisten amerikanischen Städten. Die Arbeitslosigkeit ist mit derzeit ungefähr acht Prozent zwar relativ gering, aber dennoch erheblich höher als im Staat Maryland (5,5 Prozent). Wobei die Rate in den traditionellen Wohngebieten der Schwarzen im Westen und Osten Baltimores höher ist.

Darüber hinaus wachsen etwa 72 Prozent der Kinder in den traditionell schwarzen Gebieten Baltimores mit einem alleinerziehenden Elternteil auf - fast dreimal so viel im Vergleich zum US-Durchschnitt. Das Problem dieser Familien ist vor allem die damit verbundene Armut: 77 Prozent der Familien mit einer allein erziehenden Mutter leben unterhalb der Armutsgrenze. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass ein volles monatliches Einkommen auf der Basis des erst kürzlich festgelegten Mindestlohns nicht ausreicht, um eine dreiköpfige Familie über die Armutsgrenze zu bringen. Die Anzahl von Kindern, die in Baltimore als arm gelten, ist deshalb drastisch höher als im US-Durchschnitt.

Die Folgen dieser Armut sind in den USA jedoch gravierender als in Deutschland. Schul- und Hochschulbildung sind hier nicht grundsätzlich frei - auch nicht für Studenten aus schwachen sozialen Verhältnissen. Selbst ein Studium an einer staatlichen Universität wie der University of Maryland kostet zwischen 8000 und 28 000 Dollar pro Jahr und ist für eine Familie mit geringem Einkommen nicht ohne externe Hilfe finanzierbar. Mehr als ein Drittel der Jugendlichen werden ihr Arbeitsleben ohne einen ordentlichen High-School-Abschluss beginnen und sind damit auf Jobs angewiesen, die keine Schul-Qualifikation voraussetzen.

Davon gab es vor ein paar Jahren noch viele in Baltimore: Große Stahlfabriken boten krisensichere Arbeitsplätze. Nur sind auch die der globalen Konkurrenz zum Opfer gefallen. Die mangelnde Ausbildung und der Verlust von Arbeitsplätzen beschleunigen die Verarmung der schwarzen Gebiete der Stadt und sind auch einer der Gründe für die hohe Rauschgiftkriminalität.

Baltimore gilt nach wie vor als heroin capital of the USA mit angeblich fast zehn Prozent der Bevölkerung, die regelmäßig diese Droge konsumieren. Dieses Geschäft wird von den Gangs, wie den "Bloods" oder "Crips", kontrolliert. Aber deren Ehrgeiz geht weit darüber hinaus: Sie binden Jugendliche schon früh in ihr Geschäft; so werden junge Menschen häufig Opfer von Schießereien. 2013 waren 13 Prozent der Todesopfer bei Schießereien jünger als 20 Jahre, und weitere 40 Prozent hatten noch nicht das 30. Lebensjahr erreicht.

Diese soziale Struktur lässt wenig Spielraum für die Entwicklung speziell der männlichen Schwarzen, und so ist es nicht verwunderlich, das 33 Prozent der schwarzen Männer zumindest einmal im Leben in einem Gefängnis einsitzen. Ihnen gegenüber steht eine Polizei, die durch ungerechtfertigte Übergriffe aufgefallen ist, permanent durch die hohe Kriminalitätsrate überfordert ist und bei der schwarzen Bevölkerung jeglichen Respekt verloren hat.

Doch die Diskussionen über diese Missstände finden so gut wie nicht statt. Die alltäglichen Brutalitäten werden in Baltimore schon lange nicht mehr wahrgenommen. Als erschreckendes Beispiel dafür mögen die etwa 17 Schießereien und vier Morde gelten, die seit den Aufständen am Montag in dieser Stadt passiert sind.

Keine Rückkehr zur Normalität

Während die Fernsehteams aufmerksam jede Bewegung verfolgen, geht das "normale" Leben in Baltimore also unverändert weiter, und auch die öffentliche Verlesung der Anklagen gegen die sechs an dem Tod von Freddie Gray beteiligen Polizisten kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass es weder eine Einsicht in die generellen Missstände noch Ideen für deren Lösungen gibt.

Bekannte farbige Persönlichkeiten von Jesse Jackson bis zu Präsident Obama scheinen als Führungsfiguren für die schwarze Minderheit ungeeignet zu sein, da sie selbst schon seit Jahren zum Establishment gehören. Sie haben mit den Problemen in Städten wie Baltimore genauso viel gemeinsam wie jeder Weiße aus den wohlhabenden Vororten.

Es wird daher Zeit, einen Schnitt zu machen, die Vergangenheit von der Sklaverei bis zur Rassentrennung für einige Zeit zu vergessen und die Probleme in Baltimore als das zu betrachten, was sie sind: soziale und humanitäre Katastrophen. Nichts wäre aus meiner Sicht mehr wünschenswert, als dass Baltimore nach den aktuellen Protesten eben nicht zur "Normalität" zurückkehrt und endlich konsequent gegen das Elend in der Stadt vorgeht.

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Quelle:
SZ vom 04.05.2015
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