Süddeutsche Zeitung

Außenansicht:Die Macht der Clans

Was kriminelle Clans betrifft, hat der deutsche Staat total versagt. Er weigert sich bis heute, das Problem wahrzunehmen. Dabei stellt es eine große Bedrohung für eine offene, liberale, individualisierte Gesellschaft dar.

Von Ralph Ghadban

Bald nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges 1975 in Libanon erschienen die ersten Flüchtlinge in Berlin; sie kamen über Ostberlin illegal nach Westberlin, nicht kontrolliert von den Alliierten. Sie sollten die erste bedeutende Gruppe von Flüchtlingen aus der Dritten Welt in Deutschland bilden, zugleich waren sie die ersten Bürgerkriegsflüchtlinge. Das war neu in Deutschland. Bislang kannte man die Flüchtlinge aus dem Ostblock, deren Zahl gering war, etwa viertausend jährlich, und die, ohne ein Asylverfahren zu durchlaufen, auf Antrag eine Aufenthaltserlaubnis erhielten.

Die Politik betrachtete die Bürgerkriegsflüchtlinge als Wirtschaftsflüchtlinge, weil ihre Asylbegehren in der Regel scheiterten. Eine individuelle politische Verfolgung durch den Staat war nicht nachweisbar, zudem sei im Bürgerkrieg die Binnenflucht theoretisch möglich, urteilten die Gerichte. Die abgelehnten Asylbewerber konnten jedoch nicht ausgewiesen werden, weil nach der Genfer Flüchtlingskonvention die Abschiebung in Länder verboten ist, in denen das Leben der Flüchtlinge gefährdet ist. Das gilt auch für Bürgerkriegsländer. Die Abschiebungen wurden ausgesetzt, die Flüchtlinge bekamen eine Duldung und blieben im Land.

Die Politik reagierte darauf mit einer Verschärfung der Aufenthaltsbedingungen und der Asylgesetze, um den Aufenthalt unattraktiv zu gestalten. Die Flüchtlinge gingen trotzdem nicht weg, sie wurden aber an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Dort konnten sie ungestört ihre mitgebrachten sozialen Strukturen wiederherstellen und ihre kulturellen Werte leben. Eine Integration fand nicht statt, im Gegenteil: Man signalisierte ihnen, sie seien unerwünscht. Es existierte damals ja nicht einmal für die sogenannten Gastarbeiter eine Integrationspolitik. Es gab nur Rückkehrprogramme. Deutschland war ja offiziell kein Einwanderungsland.

Die zweite Generation der Migranten, die in Deutschland geboren wurde und aufwuchs, reagierte auf diese Ignoranz. Viele wandten sich den Islamisten zu, die eine überlegene islamische Identität verherrlichten und die vermeintlich dekadente westliche Gesellschaft der Ungläubigen verdammten. Der Zulauf zu den Islamisten führte 1986 zur Gründung des ersten islamischen Dachverbands, des Islamrates.

Die jahrelang geduldeten Flüchtlinge wurden irgendwann zu einem humanitären Problem. So erfand die Politik Ende der Achtzigerjahre die "Altfallregelung", die den Aufenthalt der vor einem bestimmten Datum eingereisten Flüchtlinge unter bestimmten Bedingungen legalisierte. Zudem wurde die legale Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen im Ausländergesetz von 1990 vorgesehen. Damit war für die meisten Libanon-Flüchtlinge der Weg zur Integration offen; sie haben ihn aber nicht beschritten.

Grund ist ein Phänomen, das bis heute nicht ernst genug genommen wird: die Großfamilie. In fast allen islamischen Ländern bildet die Großfamilie den Kern der sozialen Struktur, sie wird von der Scharia unterstützt, die das Familien- und Erbrecht bestimmt. Ihr Zusammenhalt ist unterschiedlich intensiv. Bei den Clans ist er am stärksten, die verwandtschaftlichen Beziehungen sind so eng geknüpft, dass sie keine anderen Zugehörigkeiten zulassen.

Muslime, die sich als einfache Bürger betrachten, haben sich längst in die Mehrheitsgesellschaft integriert und fallen nirgendwo auf. In islamischen Großfamilien dagegen wird die islamische Identität gepflegt, sie fühlen sich zuerst der islamischen Gemeinschaft zugehörig und bilden die Grundlage für Parallelgesellschaften. In den Clans herrscht dasselbe islamisch-patriarchalische Verständnis wie in den islamischen Großfamilien - sie blieben aber unter sich. Diese Gruppen haben gemerkt, wie vorteilhaft ihre Struktur für Raubzüge in einer offenen, individualisierten Gesellschaft ist, in der die Menschen friedlich unter dem Schutz eines Staates leben wollen, der das Gewaltmonopol besitzt.

Die moderne Gesellschaft allerdings funktioniert nur, wenn die Menschen sich selbst verpflichten, die Regeln zu befolgen, weil das für sie auch persönliche Vorteile bringt. Die Clans dagegen erkennen den Rechtsstaat nicht an. Dass Gerichte und Polizei alle Bürger schützen, ist für sie unvorstellbar. Und es bringt ihnen viele persönliche Vorteile, sich nicht an die Regeln des Landes und seine Gesetze zu halten; das Individuum, das dies doch tut, halten sie für schwach und schutzlos. Raubüberfälle und Körperverletzungen sind deshalb gang und gäbe. Der Staat ist der Gegner. Wo er noch Präsenz zeigt, versuchen die Clanmitglieder, ihn auszuschalten.

Die Arbeit der Polizei wird behindert, wo es geht, Polizisten werden bedroht und eingeschüchtert. Wollen sie eingreifen, stehen schnell Dutzende Menschen um sie herum, blockieren, beschimpfen sie, fangen Schlägereien an. So entstehen "No-go-Areas", rechtsfreie Räume. Die Justiz wird gelähmt durch Bedrohung von Zeugen und Opfern, die dann Aussagen und Anzeigen zurücknehmen. So enden die meisten Gerichtsverfahren ergebnislos. Konflikte werden vom Clan in einer Paralleljustiz geregelt. Schulen und Jugendämter können ihre Aufgaben nicht erfüllen, weil die Familien sich der Zusammenarbeit verweigern.

Wegen der materiellen Erfolge der arabischen Clans haben andere Großfamilien ähnliche Strukturen entwickelt

Auch vom Flüchtlingszustrom seit 2015 versuchen die Clans zu profitieren. Sie rekrutieren Arbeitskräfte für ihre Geschäfte, zum Beispiel Drogenkuriere. Sie sind bei der Vermietung von Unterkünften, Sicherheitsdiensten, Dolmetschern und Lotsen aktiv. Die islamischen Verbände sind ebenfalls aktiv und werben die Menschen für ihre Organisationen an. So erleben wir zurzeit eine Integration der Flüchtlinge in die islamische Parallelgesellschaft. Der Staat versucht dagegenzusteuern, indem er bei den Integrationskursen die Wertevermittlung eingebaut hat. Viel geholfen hat das bislang nicht.

Was die Clans betrifft, hat der Staat total versagt; er weigert sich bis heute, das Problem wahrzunehmen. Aus Sorge um die Stigmatisierung und Diskriminierung von Minderheiten ist es verboten, von ethnischen Clans zu reden, alles fällt unter den Begriff "Organisierte Kriminalität". Wegen der materiellen Erfolge der arabischen Clans haben andere Großfamilien ähnliche Strukturen entwickelt, außerdem sind neue ethnische Clans eingewandert: Tschetschenen, Albaner, Kosovaren, Jesiden, um einige zu nennen. Dieser Zuwachs an gemeinschaftlichen Strukturen stellt eine große Bedrohung für eine offene, liberale, individualisierte Gesellschaft dar. Denn die Emanzipation von der Großfamilie und der Religion ist die unerlässliche Voraussetzung für die Integration, die immer individuell geschieht. Und der Weg zur Integration ist lang und beschwerlich.

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Quelle:
SZ vom 28.09.2018/ick
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