Klischees und MythenWenn Deutsche Berichte über Deutsche lesen ...

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Pressezwerge
Pressezwerge (Foto: imago images)

... wundern sie sich manchmal, was die ausländischen Zeitungen da so schreiben: Wir hamstern Kerzen? Aha! Wir sagen ständig "Freudenfreude"? Soso! Wie sich solche Zuschreibungen verselbständigen - und warum sie ein sozialer Kitt sind.

Von Martin Zips

Haben Sie's auch schon mitbekommen? In Deutschland werden die Kerzen knapp. Wegen der Angst vor dem Stromausfall. "Candle fever strikes as blackout-fearing Germans revive festive flames", so stand es kürzlich im britischen Guardian. Hier der preiswürdige erste Satz des Artikels: "Die Deutschen suchen zu Weihnachten Behaglichkeit im warmen gelben Flammenschein, während das Revival festlicher Traditionen zusammen mit der Angst vor Stromausfällen Kerzen zum neuen Objekt von Hamsterkäufen macht." So ungefähr lautet die deutsche Übersetzung. Verfasst wurde der Text von einem Autoren mit einem ausgesprochen deutschen Namen. Könnte also stimmen, was er schreibt.

Andererseits haben wir da gleich wieder an Winnie the Pooh gedacht. Weil der sich im Kinderbuch von A.A. Milne auf die Suche nach einem Woozle macht, obwohl der Woozle gar nicht existiert. Aber als Bär Winnie so durch den Schnee stapft, begegnet er bald seinen eigenen Spuren. "Das muss ein Woozle sein", denkt er sich und hat damit quasi den Beweis, dass der Woozle existiert.

Nach dem Guardian haben sich dann auch viele andere auf die Suche nach dem Thema mit den Kerzen gemacht. Und, was soll man sagen, sie wurden fündig. "Stromausfall: Was sollte ich unbedingt zu Hause haben?", fragte die Wormser Zeitung. In der Neuß-Grevenbroicher Zeitung berichtete ein Baumarktleiter von Hamsterkäufen nun auch bei Taschenlampen und Batterien. Und in der FAZ empfahl der Frankfurter FDP-Stadtverordnete Peter Thoma: "Kaufen Sie sich Kerzen und Schnaps und hoffen Sie, dass es nicht so schlimm wird."

Wenn man etwas nur oft genug behauptet, dann wird es für wahr gehalten

Man müsse etwas nur oft genug behaupten, dann werde es schon für wahr gehalten, meinte einst der Journalist Norman Mailer und hatte sogar ein eigenes Wort dafür: Faktoid. Mittlerweile ist die Welt voll solcher Faktoide, etwa, wenn - in der New York Times - vom neuen Lieblingsgericht der Italiener geschwärmt wird: "Smoky Tomato Carbonara" oder vom in Deutschland angeblich bekannten Wort "Freudenfreude". Zwar spricht in Deutschland keiner so und auch in Italien würde niemand auf die Idee kommen, sich Tomaten in die Carbonara zu kippen, aber, wer weiß? Kann ja noch kommen.

Im Internet gibt es eine Seite, die sich bereits seit 1994 mit modernen Mythen, Märchen und Legenden beschäftigt. Snopes.com heißt sie, das Team um den US-Amerikaner David Mikkelson befasst sich minutiös zum Beispiel damit, ob in Japan, wie im Netz behauptet, tatsächlich der Brauch des "Weihnachtsmann-Kreuzigens" gepflegt wird oder ob es in China weiterhin an quasi jeder Straßenecke Restaurants mit Hundefleisch auf der Speisekarte gibt. (Antwort: Nein, gibt es nicht.) "Der Quatsch kommt schneller, als du pumpen kannst", so David Mikkelson in einem Interview.

Gleichzeitig aber sind solche Geschichten natürlich ein wichtiger Kitt für die Gesellschaft. "Wenn der Guardian berichtet, dass in Deutschland die Kerzen knapp werden, so folgt das einem klassischen Motiv", meint der Regensburger Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder. "Auf der einen Seite steht die Angst vor dem Kontrollverlust: Winter und Kälte bedienen menschliche Urängste. Auf der anderen Seite wird betont: Schaut mal, den Deutschen geht es gerade auch nicht besser als uns, die wir aus der EU ausgetreten sind und ziemliche Probleme haben. Aber: Die Deutschen wissen sich eben zu helfen!" Bereits vor zwei Jahren hatte der Guardian mit einem Artikel, der sich mit der (angeblich) "deutschen" Art des Stoßlüftens befasste, im Netz einen beachtlichen Erfolg erzielt.

Wie die "New York Times" die "Fraunhofer Schoppenstube" zum Top-Lokal erklärte

Wichtig ist der Neuigkeitswert. So berichtete die New York Times im Jahr 2010, dass die Münchner "Fraunhofer Schoppenstube" zu den deutschen Top-Lokalen gehört. Davon hatte man zuvor selbst in München noch nie gehört. 2019 dann wurde an gleicher Stelle behauptet, dass ganz Deutschland auf den Stoffbeutel einer Buchladen-Kette abfährt, auf dem mittelalterliche Zeichen eine Art Geheimcode bilden: "In Berlin ist die Tasche überall", wusste die US-amerikanische Zeitung. "Wer etwas völlig Neues zu erzählen hat", so Hirschfelder, "erhöht damit sein Sozialkapital."

Dass es beim ein oder anderen Mal Zweifel gibt, ist völlig normal. Als kürzlich etwa das in den USA lebende österreichisch-deutsche Comedy-Duo Calvin und Habs in einem Tiktok-Video behauptete, in Deutschland gebe es ein Kinderbuch, in dem ein Schneider einem Jungen den Daumen mit der Schere abschneide (ja, das gibt es!), da wollte zumindest das erst niemand glauben.

Es reiche die "metaphysische Wahrheit", um eine Geschichte als wahr zu empfinden, meinte der italienische Philosoph Giambattista Vico einmal. Fakten seien gar nicht so entscheidend. Also nicht lange drüber nachdenken, über Carbonara mit Tomaten, Stromausfall und Freudenfreude. Langfristig könnte da noch was ganz Großes draus entstehen. Und nun entschuldigen Sie uns, bitte. Wir müssen noch Kerzen kaufen gehen. Mit unserem unfassbar kultigen Stoffbeutel.

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